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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864.

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und statt des Hymnus der Magier sang sie das Lied, mit
dem die ägyptischen Priester die Morgensonne zu begrüßen
pflegten:

"Der großen Gottheit eure Kniee beugt,
Dem Kind des Himmels, dem erhab'nen Ra,
Jhm, der aus eig'ner Urkraft sich erzeugt,
Den, frisch erneut, ein jeder Morgen sah.
Dir schalle Ruhm, der Du im Himmelsmeer,
Gedeihen spendend, wallest durch das Blau;
Du schufest Alles, Alles rings umher,
So weit sich wölbt die hohe Himmelsau.
Du bist der Wächter, dessen milder Strahl
Den Reinen allen süßes Leben bringt;
Dir schalle Ruhm; und wenn im Himmelsthal
Dein heller Pfad sich durch die Bläue schlingt,
So beben alle Götter, die Dir nah,
Vor süßer Wonne, Kind des Himmels, Ra!"110)

Reicher Trost zog mit diesem Sange in ihr Herz.
Mit thränenfeuchten Augen schaute sie, ihrer Kindheit ge-
denkend, dem jungen Lichte, dessen Strahlen ihre Augen
noch nicht blendeten, entgegen. Dann sah sie hernieder in
die Ebene. Da floß, dem Nile ähnlich, der Euphrat mit
seinen gelblichen Wellen. Zahlreiche Dörfer schauten, wie
in ihrer Heimat, aus üppigen Saatfeldern und Feigen-
gebüschen hervor. Gen Westen dehnte sich meilenweit der
Thiergarten des Königs mit seinen hohen Cypressen und
Nußbäumen. Auf allen Blättern und Halmen schimmerte
der Morgenthau, und in den Büschen des Gartens, den sie
bewohnte, ließen zahllose Vögel ihre lieblichen Stimmen
vernehmen. Jetzt hob sich ein leiser Lufthauch, trug süße
Rosendüfte zu ihr hin und spielte mit den Wipfeln der
Palmen, die sich am Ufer des Stromes und auf allen

und ſtatt des Hymnus der Magier ſang ſie das Lied, mit
dem die ägyptiſchen Prieſter die Morgenſonne zu begrüßen
pflegten:

„Der großen Gottheit eure Kniee beugt,
Dem Kind des Himmels, dem erhab’nen Ra,
Jhm, der aus eig’ner Urkraft ſich erzeugt,
Den, friſch erneut, ein jeder Morgen ſah.
Dir ſchalle Ruhm, der Du im Himmelsmeer,
Gedeihen ſpendend, walleſt durch das Blau;
Du ſchufeſt Alles, Alles rings umher,
So weit ſich wölbt die hohe Himmelsau.
Du biſt der Wächter, deſſen milder Strahl
Den Reinen allen ſüßes Leben bringt;
Dir ſchalle Ruhm; und wenn im Himmelsthal
Dein heller Pfad ſich durch die Bläue ſchlingt,
So beben alle Götter, die Dir nah,
Vor ſüßer Wonne, Kind des Himmels, Ra!“110)

Reicher Troſt zog mit dieſem Sange in ihr Herz.
Mit thränenfeuchten Augen ſchaute ſie, ihrer Kindheit ge-
denkend, dem jungen Lichte, deſſen Strahlen ihre Augen
noch nicht blendeten, entgegen. Dann ſah ſie hernieder in
die Ebene. Da floß, dem Nile ähnlich, der Euphrat mit
ſeinen gelblichen Wellen. Zahlreiche Dörfer ſchauten, wie
in ihrer Heimat, aus üppigen Saatfeldern und Feigen-
gebüſchen hervor. Gen Weſten dehnte ſich meilenweit der
Thiergarten des Königs mit ſeinen hohen Cypreſſen und
Nußbäumen. Auf allen Blättern und Halmen ſchimmerte
der Morgenthau, und in den Büſchen des Gartens, den ſie
bewohnte, ließen zahlloſe Vögel ihre lieblichen Stimmen
vernehmen. Jetzt hob ſich ein leiſer Lufthauch, trug ſüße
Roſendüfte zu ihr hin und ſpielte mit den Wipfeln der
Palmen, die ſich am Ufer des Stromes und auf allen

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[186/0188] und ſtatt des Hymnus der Magier ſang ſie das Lied, mit dem die ägyptiſchen Prieſter die Morgenſonne zu begrüßen pflegten: „Der großen Gottheit eure Kniee beugt, Dem Kind des Himmels, dem erhab’nen Ra, Jhm, der aus eig’ner Urkraft ſich erzeugt, Den, friſch erneut, ein jeder Morgen ſah. Dir ſchalle Ruhm, der Du im Himmelsmeer, Gedeihen ſpendend, walleſt durch das Blau; Du ſchufeſt Alles, Alles rings umher, So weit ſich wölbt die hohe Himmelsau. Du biſt der Wächter, deſſen milder Strahl Den Reinen allen ſüßes Leben bringt; Dir ſchalle Ruhm; und wenn im Himmelsthal Dein heller Pfad ſich durch die Bläue ſchlingt, So beben alle Götter, die Dir nah, Vor ſüßer Wonne, Kind des Himmels, Ra!“110) Reicher Troſt zog mit dieſem Sange in ihr Herz. Mit thränenfeuchten Augen ſchaute ſie, ihrer Kindheit ge- denkend, dem jungen Lichte, deſſen Strahlen ihre Augen noch nicht blendeten, entgegen. Dann ſah ſie hernieder in die Ebene. Da floß, dem Nile ähnlich, der Euphrat mit ſeinen gelblichen Wellen. Zahlreiche Dörfer ſchauten, wie in ihrer Heimat, aus üppigen Saatfeldern und Feigen- gebüſchen hervor. Gen Weſten dehnte ſich meilenweit der Thiergarten des Königs mit ſeinen hohen Cypreſſen und Nußbäumen. Auf allen Blättern und Halmen ſchimmerte der Morgenthau, und in den Büſchen des Gartens, den ſie bewohnte, ließen zahlloſe Vögel ihre lieblichen Stimmen vernehmen. Jetzt hob ſich ein leiſer Lufthauch, trug ſüße Roſendüfte zu ihr hin und ſpielte mit den Wipfeln der Palmen, die ſich am Ufer des Stromes und auf allen

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/188>, abgerufen am 25.04.2024.