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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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mit Beispielen oder auch Anekdoten auszumalen. Allein --
worauf es hier ankommt -- bei der weitestgehenden Detail-
lierung unseres Wissens, zu der wir im stande sind, behält
alles, was wir sagen können, den unbestimmten, allgemeinen,
komparativen Charakter der oben angeführten Sätze. Unsere
Kenntnis stammt fast ausschliesslich aus der Beobachtung ex-
tremer, besonders frappanter Fälle. Wir vermögen diese in
allgemeiner Weise und in den vagen Ausdrücken des Mehr
und Minder ganz zutreffend zu beschreiben und setzen --
wiederum ganz zutreffend -- voraus, dass sich bei dem nicht
besonders auffallenden, aber tausendfach häufigeren alltäglichen
Wirken des Gedächtnisses dieselben Einflüsse in abgeschwächter
Weise geltend machen werden. Aber treibt man die Neu-
gier weiter und verlangt speciellere Aufschlüsse über das
Detail der aufgezählten und anderer Abhängigkeitsbeziehungen,
über ihre innere Struktur sozusagen, so verstummen die Ant-
worten. In welcher Weise hängt das Schwinden der Repro-
ducierbarkeit, das Vergessen, von der Länge der Zeit ab,
innerhalb deren keine Wiederholungen stattfanden? In wel-
chem Grade nimmt die Sicherheit der Reproduktionen zu mit
der Anzahl jener Wiederholungen? Wie ändern sich diese
Beziehungen bei verstärkter oder verminderter Intensität des
Interesses an den reproducierbaren Gebilden? Das und der-
gleichen vermag niemand zu sagen.

Und zwar besteht dieses Unvermögen nicht etwa deshalb,
weil diese Verhältnisse zufällig noch nicht untersucht sind,
aber morgen, oder wann man sich die Zeit dazu nähme, unter-
sucht werden könnten. Sondern man fühlt unmittelbar aus
den Fragen heraus, dass zwar die in ihnen enthaltenen Vor-
stellungen von Graden des Vergessens, der Sicherheit, des
Interesses ganz korrekte sind, dass uns aber die Mittel fehlen,

schnellsten“ u. s. w.; sie pflegt namentlich das Bild reichlich
mit Beispielen oder auch Anekdoten auszumalen. Allein —
worauf es hier ankommt — bei der weitestgehenden Detail-
lierung unseres Wissens, zu der wir im stande sind, behält
alles, was wir sagen können, den unbestimmten, allgemeinen,
komparativen Charakter der oben angeführten Sätze. Unsere
Kenntnis stammt fast ausschlieſslich aus der Beobachtung ex-
tremer, besonders frappanter Fälle. Wir vermögen diese in
allgemeiner Weise und in den vagen Ausdrücken des Mehr
und Minder ganz zutreffend zu beschreiben und setzen —
wiederum ganz zutreffend — voraus, daſs sich bei dem nicht
besonders auffallenden, aber tausendfach häufigeren alltäglichen
Wirken des Gedächtnisses dieselben Einflüsse in abgeschwächter
Weise geltend machen werden. Aber treibt man die Neu-
gier weiter und verlangt speciellere Aufschlüsse über das
Detail der aufgezählten und anderer Abhängigkeitsbeziehungen,
über ihre innere Struktur sozusagen, so verstummen die Ant-
worten. In welcher Weise hängt das Schwinden der Repro-
ducierbarkeit, das Vergessen, von der Länge der Zeit ab,
innerhalb deren keine Wiederholungen stattfanden? In wel-
chem Grade nimmt die Sicherheit der Reproduktionen zu mit
der Anzahl jener Wiederholungen? Wie ändern sich diese
Beziehungen bei verstärkter oder verminderter Intensität des
Interesses an den reproducierbaren Gebilden? Das und der-
gleichen vermag niemand zu sagen.

Und zwar besteht dieses Unvermögen nicht etwa deshalb,
weil diese Verhältnisse zufällig noch nicht untersucht sind,
aber morgen, oder wann man sich die Zeit dazu nähme, unter-
sucht werden könnten. Sondern man fühlt unmittelbar aus
den Fragen heraus, daſs zwar die in ihnen enthaltenen Vor-
stellungen von Graden des Vergessens, der Sicherheit, des
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[6/0022] schnellsten“ u. s. w.; sie pflegt namentlich das Bild reichlich mit Beispielen oder auch Anekdoten auszumalen. Allein — worauf es hier ankommt — bei der weitestgehenden Detail- lierung unseres Wissens, zu der wir im stande sind, behält alles, was wir sagen können, den unbestimmten, allgemeinen, komparativen Charakter der oben angeführten Sätze. Unsere Kenntnis stammt fast ausschlieſslich aus der Beobachtung ex- tremer, besonders frappanter Fälle. Wir vermögen diese in allgemeiner Weise und in den vagen Ausdrücken des Mehr und Minder ganz zutreffend zu beschreiben und setzen — wiederum ganz zutreffend — voraus, daſs sich bei dem nicht besonders auffallenden, aber tausendfach häufigeren alltäglichen Wirken des Gedächtnisses dieselben Einflüsse in abgeschwächter Weise geltend machen werden. Aber treibt man die Neu- gier weiter und verlangt speciellere Aufschlüsse über das Detail der aufgezählten und anderer Abhängigkeitsbeziehungen, über ihre innere Struktur sozusagen, so verstummen die Ant- worten. In welcher Weise hängt das Schwinden der Repro- ducierbarkeit, das Vergessen, von der Länge der Zeit ab, innerhalb deren keine Wiederholungen stattfanden? In wel- chem Grade nimmt die Sicherheit der Reproduktionen zu mit der Anzahl jener Wiederholungen? Wie ändern sich diese Beziehungen bei verstärkter oder verminderter Intensität des Interesses an den reproducierbaren Gebilden? Das und der- gleichen vermag niemand zu sagen. Und zwar besteht dieses Unvermögen nicht etwa deshalb, weil diese Verhältnisse zufällig noch nicht untersucht sind, aber morgen, oder wann man sich die Zeit dazu nähme, unter- sucht werden könnten. Sondern man fühlt unmittelbar aus den Fragen heraus, daſs zwar die in ihnen enthaltenen Vor- stellungen von Graden des Vergessens, der Sicherheit, des Interesses ganz korrekte sind, daſs uns aber die Mittel fehlen,

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/22>, abgerufen am 19.04.2024.