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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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Wie verschieden verhalten sich die verschiedenen Indivi-
duen
in dieser Beziehung! Nicht nur verglichen mit anderen
behält und reproduciert dieser gut, jener schlecht, sondern
auch verglichen mit sich selbst jeder anders in anderen Phasen
seines Daseins; verschieden am Morgen und am Abend, in
der Jugend und im Alter.

Von erheblichem Einfluss ist die Verschiedenheit des
Inhalts des Reproducierten. Melodien können zur Qual
werden durch die unerwünschte Hartnäckigkeit ihrer Wieder-
kehr. Formen und Farben pflegen sich nicht gerade aufzu-
drängen; und wenn sie sich wieder einstellen, geschieht es
mit merklicher Einbusse an Deutlichkeit und Sicherheit. Der
Musiker schreibt für Orchester nieder was die inneren Stim-
men ihm zusingen; der Maler verlässt sich selten ohne Nach-
teil ganz auf das innerlich Angeschaute, er schafft nach der
Natur und kombiniert nach Studien. Vergangene Gefühls-
zustände endlich vergegenwärtigt man sich fast mit Mühe, in
ziemlich blassen Schemen und oft nur durch die sie beglei-
tenden Bewegungen. Gefühlswahrer Gesang ist seltener als
korrekter Gesang.

Nimmt man die beiden vorigen Gesichtspunkte zusam-
men -- das Verhalten verschiedener Individuen zu ver-
schiedenen Inhalten --, so zeigen sich unendliche Diffe-
renzen. Der eine strömt über von poetischen Reminiscenzen,
der andere dirigiert Symphonien aus dem Kopfe, während
Zahlen und Formeln, die dem dritten fast ohne sein Zu-
thun anfliegen, von jenen abgleiten wie von poliertem Stein.

Ausserordentlich gross ist die Abhängigkeit des Behaltens
und Reproducierens von der Intensität der Aufmerksam-
keit und des Interesses
, welche sich bei dem ersten
Dasein der psychischen Zustände an diese hefteten. Das ge-
brannte Kind scheut das Feuer und der geschlagene Hund

Wie verschieden verhalten sich die verschiedenen Indivi-
duen
in dieser Beziehung! Nicht nur verglichen mit anderen
behält und reproduciert dieser gut, jener schlecht, sondern
auch verglichen mit sich selbst jeder anders in anderen Phasen
seines Daseins; verschieden am Morgen und am Abend, in
der Jugend und im Alter.

Von erheblichem Einfluſs ist die Verschiedenheit des
Inhalts des Reproducierten. Melodien können zur Qual
werden durch die unerwünschte Hartnäckigkeit ihrer Wieder-
kehr. Formen und Farben pflegen sich nicht gerade aufzu-
drängen; und wenn sie sich wieder einstellen, geschieht es
mit merklicher Einbuſse an Deutlichkeit und Sicherheit. Der
Musiker schreibt für Orchester nieder was die inneren Stim-
men ihm zusingen; der Maler verläſst sich selten ohne Nach-
teil ganz auf das innerlich Angeschaute, er schafft nach der
Natur und kombiniert nach Studien. Vergangene Gefühls-
zustände endlich vergegenwärtigt man sich fast mit Mühe, in
ziemlich blassen Schemen und oft nur durch die sie beglei-
tenden Bewegungen. Gefühlswahrer Gesang ist seltener als
korrekter Gesang.

Nimmt man die beiden vorigen Gesichtspunkte zusam-
men — das Verhalten verschiedener Individuen zu ver-
schiedenen Inhalten —, so zeigen sich unendliche Diffe-
renzen. Der eine strömt über von poetischen Reminiscenzen,
der andere dirigiert Symphonien aus dem Kopfe, während
Zahlen und Formeln, die dem dritten fast ohne sein Zu-
thun anfliegen, von jenen abgleiten wie von poliertem Stein.

Auſserordentlich groſs ist die Abhängigkeit des Behaltens
und Reproducierens von der Intensität der Aufmerksam-
keit und des Interesses
, welche sich bei dem ersten
Dasein der psychischen Zustände an diese hefteten. Das ge-
brannte Kind scheut das Feuer und der geschlagene Hund

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[4/0020] Wie verschieden verhalten sich die verschiedenen Indivi- duen in dieser Beziehung! Nicht nur verglichen mit anderen behält und reproduciert dieser gut, jener schlecht, sondern auch verglichen mit sich selbst jeder anders in anderen Phasen seines Daseins; verschieden am Morgen und am Abend, in der Jugend und im Alter. Von erheblichem Einfluſs ist die Verschiedenheit des Inhalts des Reproducierten. Melodien können zur Qual werden durch die unerwünschte Hartnäckigkeit ihrer Wieder- kehr. Formen und Farben pflegen sich nicht gerade aufzu- drängen; und wenn sie sich wieder einstellen, geschieht es mit merklicher Einbuſse an Deutlichkeit und Sicherheit. Der Musiker schreibt für Orchester nieder was die inneren Stim- men ihm zusingen; der Maler verläſst sich selten ohne Nach- teil ganz auf das innerlich Angeschaute, er schafft nach der Natur und kombiniert nach Studien. Vergangene Gefühls- zustände endlich vergegenwärtigt man sich fast mit Mühe, in ziemlich blassen Schemen und oft nur durch die sie beglei- tenden Bewegungen. Gefühlswahrer Gesang ist seltener als korrekter Gesang. Nimmt man die beiden vorigen Gesichtspunkte zusam- men — das Verhalten verschiedener Individuen zu ver- schiedenen Inhalten —, so zeigen sich unendliche Diffe- renzen. Der eine strömt über von poetischen Reminiscenzen, der andere dirigiert Symphonien aus dem Kopfe, während Zahlen und Formeln, die dem dritten fast ohne sein Zu- thun anfliegen, von jenen abgleiten wie von poliertem Stein. Auſserordentlich groſs ist die Abhängigkeit des Behaltens und Reproducierens von der Intensität der Aufmerksam- keit und des Interesses, welche sich bei dem ersten Dasein der psychischen Zustände an diese hefteten. Das ge- brannte Kind scheut das Feuer und der geschlagene Hund

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/20>, abgerufen am 28.03.2024.