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Du Bois-Reymond, Emil Heinrich: Über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig, 1872.

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Weltformel könnte es sagen. Denn beim Zusammen¬
treten unorganischer Stoffe zu Lebendigem handelt es
sich zunächst nur um Bewegung, um Anordnung von
Molecülen in mehr oder minder festen Gleichgewichts¬
lagen, und um Einleitung eines Stoffwechsels theils
durch Spannkräfte der Molecüle, theils durch von aussen
überkommene Bewegung. Was das Lebende vom
Todten, die Pflanze und das nur in seinen körperlichen
Functionen betrachtete Thier vom Krystall unterscheidet,
ist zuletzt dieses: Im Krystall befindet sich die Materie
in stabilem Gleichgewichte, während durch das orga¬
nische Wesen ein Strom von Materie sich ergiesst, die
Materie darin in mehr oder minder vollkommenem dy¬
namischem Gleichgewichte7 sich befindet, mit bald posi¬
tiver, bald der Null gleicher, bald negativer Bilanz.
Daher ohne Einwirkung äusserer Massen und Kräfte der
Krystall ewig bleibt was er ist, dagegen das organische
Wesen in seinem Bestehen von gewissen äusseren Be¬
dingungen, den integrirenden Reizen der älteren Phy¬
siologie, abhängt, in sich potentielle Energie in kine¬
tische verwandelt und umgekehrt, und einem bestimmten
zeitlichen Verlauf unterworfen ist. Ohne grundsätz¬
liche Verschiedenheit der Kräfte im Krystall und
im organischen Wesen erklärt sich so, dass beide
miteinander incommensurabel sind, wie ein blosses Bau¬
werk incommensurabel ist mit einer Fabrik, in die hier

Weltformel könnte es sagen. Denn beim Zusammen¬
treten unorganischer Stoffe zu Lebendigem handelt es
sich zunächst nur um Bewegung, um Anordnung von
Molecülen in mehr oder minder festen Gleichgewichts¬
lagen, und um Einleitung eines Stoffwechsels theils
durch Spannkräfte der Molecüle, theils durch von aussen
überkommene Bewegung. Was das Lebende vom
Todten, die Pflanze und das nur in seinen körperlichen
Functionen betrachtete Thier vom Krystall unterscheidet,
ist zuletzt dieses: Im Krystall befindet sich die Materie
in stabilem Gleichgewichte, während durch das orga¬
nische Wesen ein Strom von Materie sich ergiesst, die
Materie darin in mehr oder minder vollkommenem dy¬
namischem Gleichgewichte7 sich befindet, mit bald posi¬
tiver, bald der Null gleicher, bald negativer Bilanz.
Daher ohne Einwirkung äusserer Massen und Kräfte der
Krystall ewig bleibt was er ist, dagegen das organische
Wesen in seinem Bestehen von gewissen äusseren Be¬
dingungen, den integrirenden Reizen der älteren Phy¬
siologie, abhängt, in sich potentielle Energie in kine¬
tische verwandelt und umgekehrt, und einem bestimmten
zeitlichen Verlauf unterworfen ist. Ohne grundsätz¬
liche Verschiedenheit der Kräfte im Krystall und
im organischen Wesen erklärt sich so, dass beide
miteinander incommensurabel sind, wie ein blosses Bau¬
werk incommensurabel ist mit einer Fabrik, in die hier

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[14/0022] Weltformel könnte es sagen. Denn beim Zusammen¬ treten unorganischer Stoffe zu Lebendigem handelt es sich zunächst nur um Bewegung, um Anordnung von Molecülen in mehr oder minder festen Gleichgewichts¬ lagen, und um Einleitung eines Stoffwechsels theils durch Spannkräfte der Molecüle, theils durch von aussen überkommene Bewegung. Was das Lebende vom Todten, die Pflanze und das nur in seinen körperlichen Functionen betrachtete Thier vom Krystall unterscheidet, ist zuletzt dieses: Im Krystall befindet sich die Materie in stabilem Gleichgewichte, während durch das orga¬ nische Wesen ein Strom von Materie sich ergiesst, die Materie darin in mehr oder minder vollkommenem dy¬ namischem Gleichgewichte ⁷ sich befindet, mit bald posi¬ tiver, bald der Null gleicher, bald negativer Bilanz. Daher ohne Einwirkung äusserer Massen und Kräfte der Krystall ewig bleibt was er ist, dagegen das organische Wesen in seinem Bestehen von gewissen äusseren Be¬ dingungen, den integrirenden Reizen der älteren Phy¬ siologie, abhängt, in sich potentielle Energie in kine¬ tische verwandelt und umgekehrt, und einem bestimmten zeitlichen Verlauf unterworfen ist. Ohne grundsätz¬ liche Verschiedenheit der Kräfte im Krystall und im organischen Wesen erklärt sich so, dass beide miteinander incommensurabel sind, wie ein blosses Bau¬ werk incommensurabel ist mit einer Fabrik, in die hier

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Zitationshilfe: Du Bois-Reymond, Emil Heinrich: Über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig, 1872, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dubois_naturerkennen_1872/22>, abgerufen am 29.03.2024.