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Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833].

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Freiheit noch Gefahr von den Persern droht, so lange die Freiheit
in sich noch Elemente der Ungleichheit verbirgt; und diese selbst arbeitet
der Kampf gegen die Barbaren hinweg; mit Cimon, dem letzten
Aristokraten Athens, hörte der Perserkrieg auf, Perikles lenkte den
Staat; die Demokratie und die Macht Athens war auf ihrem Gipfel.

Aber die Consequenzen dieser Freiheit selbst führten zum Un-
tergange. Warum sollten Wenige, durch die Zufälligkeiten der Ge-
burt und des Reichthums ausgezeichnet, größeren Einfluß, höhere
Achtung als jeder andere freie Bürger haben? so fiel die Aristokratie
und die Stätigkeit des gemeinen Wesens. Warum sollte ferner,
was irgend wer vor Zeiten für und durch das Volk gethan, ihn
später noch über Andere und Alle erheben, die Zukunft an eine längst
verbrauchte Vergangenheit gefesselt sein? so wurde Aristides, The-
mistokles, Cimon, Thucydides durch den Ostracismus verbannt, so
der Areopagus gestürzt, so alle Entscheidung an das Volk gegeben,
das Perikles mit immer neuer Kraft zur höchsten Entwickelung des
demokratischen Bewußseins, endlich zum offenbaren Krieg mit den
Dorischen Staaten führte. Dasselbe Bewußtsein entwickelte in der
Philosophie Anaxagoras, des Perikles Freund, der die Ordnung der
Dinge von den Göttern auf den Verstand hinüber trug, der den
Glauben der Menge durch das Bewußtsein der Verständigen Lügen
strafte. Und als der Peloponnesische Krieg begann, übernahmen es die
Sophisten, jenes zerstörende Warum weiter zu verfolgen, die Dema-
gogen, es in alle Adern des Volkslebens wie ein süßes Gift zu ver-
breiten; sie nannten Gesetz und Recht Willkühr und Satzung, das
eigne Gewissen letzte Entscheidung, den eignen Nutzen höchsten Zweck,
die Macht zur Herrschaft berechtigt, den Staat um des Einzelnen
Willen und zu dessen Förderung groß und reich. In den Mysterien
war bisher verborgen und der Frivolität des Geschwätzes, dem Tau-
mel des öffentlichen Lebens entrückt gewesen, was allem Zweifel und
allem Spott unerreichbar sein mußte, wenn der Demokratie noch
irgend Charakter und Haltung bleiben sollte; auch von ihnen wich
jetzt die alte Ehrfurcht; alles Gemeinsame ging unter, das Volk
löste sich auf in die Atomistik der Ochlokratie, die Theilnahme an
dem öffentlichen Leben in ein wildes Gewirr persönlicher Leiden-
schaften und Lächerlichkeiten, der Glaube der Väter in den Atheis-
mus der sophistischen Aufklärung. Mit gleichem Rechte war es,

Freiheit noch Gefahr von den Perſern droht, ſo lange die Freiheit
in ſich noch Elemente der Ungleichheit verbirgt; und dieſe ſelbſt arbeitet
der Kampf gegen die Barbaren hinweg; mit Cimon, dem letzten
Ariſtokraten Athens, hörte der Perſerkrieg auf, Perikles lenkte den
Staat; die Demokratie und die Macht Athens war auf ihrem Gipfel.

Aber die Conſequenzen dieſer Freiheit ſelbſt führten zum Un-
tergange. Warum ſollten Wenige, durch die Zufälligkeiten der Ge-
burt und des Reichthums ausgezeichnet, größeren Einfluß, höhere
Achtung als jeder andere freie Bürger haben? ſo fiel die Ariſtokratie
und die Stätigkeit des gemeinen Weſens. Warum ſollte ferner,
was irgend wer vor Zeiten für und durch das Volk gethan, ihn
ſpäter noch über Andere und Alle erheben, die Zukunft an eine längſt
verbrauchte Vergangenheit gefeſſelt ſein? ſo wurde Ariſtides, The-
miſtokles, Cimon, Thucydides durch den Oſtracismus verbannt, ſo
der Areopagus geſtürzt, ſo alle Entſcheidung an das Volk gegeben,
das Perikles mit immer neuer Kraft zur höchſten Entwickelung des
demokratiſchen Bewußſeins, endlich zum offenbaren Krieg mit den
Doriſchen Staaten führte. Daſſelbe Bewußtſein entwickelte in der
Philoſophie Anaxagoras, des Perikles Freund, der die Ordnung der
Dinge von den Göttern auf den Verſtand hinüber trug, der den
Glauben der Menge durch das Bewußtſein der Verſtändigen Lügen
ſtrafte. Und als der Peloponneſiſche Krieg begann, übernahmen es die
Sophiſten, jenes zerſtörende Warum weiter zu verfolgen, die Dema-
gogen, es in alle Adern des Volkslebens wie ein ſüßes Gift zu ver-
breiten; ſie nannten Geſetz und Recht Willkühr und Satzung, das
eigne Gewiſſen letzte Entſcheidung, den eignen Nutzen höchſten Zweck,
die Macht zur Herrſchaft berechtigt, den Staat um des Einzelnen
Willen und zu deſſen Förderung groß und reich. In den Myſterien
war bisher verborgen und der Frivolität des Geſchwätzes, dem Tau-
mel des öffentlichen Lebens entrückt geweſen, was allem Zweifel und
allem Spott unerreichbar ſein mußte, wenn der Demokratie noch
irgend Charakter und Haltung bleiben ſollte; auch von ihnen wich
jetzt die alte Ehrfurcht; alles Gemeinſame ging unter, das Volk
löſte ſich auf in die Atomiſtik der Ochlokratie, die Theilnahme an
dem öffentlichen Leben in ein wildes Gewirr perſönlicher Leiden-
ſchaften und Lächerlichkeiten, der Glaube der Väter in den Atheis-
mus der ſophiſtiſchen Aufklärung. Mit gleichem Rechte war es,

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[8/0022] Freiheit noch Gefahr von den Perſern droht, ſo lange die Freiheit in ſich noch Elemente der Ungleichheit verbirgt; und dieſe ſelbſt arbeitet der Kampf gegen die Barbaren hinweg; mit Cimon, dem letzten Ariſtokraten Athens, hörte der Perſerkrieg auf, Perikles lenkte den Staat; die Demokratie und die Macht Athens war auf ihrem Gipfel. Aber die Conſequenzen dieſer Freiheit ſelbſt führten zum Un- tergange. Warum ſollten Wenige, durch die Zufälligkeiten der Ge- burt und des Reichthums ausgezeichnet, größeren Einfluß, höhere Achtung als jeder andere freie Bürger haben? ſo fiel die Ariſtokratie und die Stätigkeit des gemeinen Weſens. Warum ſollte ferner, was irgend wer vor Zeiten für und durch das Volk gethan, ihn ſpäter noch über Andere und Alle erheben, die Zukunft an eine längſt verbrauchte Vergangenheit gefeſſelt ſein? ſo wurde Ariſtides, The- miſtokles, Cimon, Thucydides durch den Oſtracismus verbannt, ſo der Areopagus geſtürzt, ſo alle Entſcheidung an das Volk gegeben, das Perikles mit immer neuer Kraft zur höchſten Entwickelung des demokratiſchen Bewußſeins, endlich zum offenbaren Krieg mit den Doriſchen Staaten führte. Daſſelbe Bewußtſein entwickelte in der Philoſophie Anaxagoras, des Perikles Freund, der die Ordnung der Dinge von den Göttern auf den Verſtand hinüber trug, der den Glauben der Menge durch das Bewußtſein der Verſtändigen Lügen ſtrafte. Und als der Peloponneſiſche Krieg begann, übernahmen es die Sophiſten, jenes zerſtörende Warum weiter zu verfolgen, die Dema- gogen, es in alle Adern des Volkslebens wie ein ſüßes Gift zu ver- breiten; ſie nannten Geſetz und Recht Willkühr und Satzung, das eigne Gewiſſen letzte Entſcheidung, den eignen Nutzen höchſten Zweck, die Macht zur Herrſchaft berechtigt, den Staat um des Einzelnen Willen und zu deſſen Förderung groß und reich. In den Myſterien war bisher verborgen und der Frivolität des Geſchwätzes, dem Tau- mel des öffentlichen Lebens entrückt geweſen, was allem Zweifel und allem Spott unerreichbar ſein mußte, wenn der Demokratie noch irgend Charakter und Haltung bleiben ſollte; auch von ihnen wich jetzt die alte Ehrfurcht; alles Gemeinſame ging unter, das Volk löſte ſich auf in die Atomiſtik der Ochlokratie, die Theilnahme an dem öffentlichen Leben in ein wildes Gewirr perſönlicher Leiden- ſchaften und Lächerlichkeiten, der Glaube der Väter in den Atheis- mus der ſophiſtiſchen Aufklärung. Mit gleichem Rechte war es,

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833], S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/22>, abgerufen am 16.04.2024.