Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

Bild:
<< vorherige Seite

Den durch des Wirbels stäubend Rennen
Er eben, eben mag erkennen.

Die Drance in ihrem engen Bette
Sich windet um das Felsenriff,
Und drüber her, ein luftig Schiff,
Der Fichte Stamm vereint die Kette.
Am Tag', bei hellem Sonnenschein,
Wer schaute ohne Schwindel drein!
Zudem der Steg, jüngst überschwemmt
Von aufgelös'ten Schnees Wogen,
Mit Eises Rinde ist umzogen,
Die sich zu glatten Hügeln dämmt.
Hier steht der Greis in seinen Nöthen,
Der nichts mehr kann und nichts mehr weiß
Und sachte noch versucht zu beten;
Schiebt dann voran die Sohle leis'.
Schau! wie auf dem beglas'ten Bogen
Um einen Tritt er vorwärts schreitet;
Er steht nicht fest, er schwankt, er gleitet,
Er ist verloren -- nein -- er steht.
Mit blindem Glück zurück gezogen
Sein Fuß auf festem Grund sich dreht.
Zuerst der Alte ganz betäubt
Am Rand der Kluft gefesselt bleibt:
Dann, wie aus plötzlichem Entschlusse,
Den Mantel schiebt er von der Brust
Und herzt mit langem, langem Kusse,
Dem letzten irdischen Genusse,
Das Kind in Scheidens bittrer Lust.

Den durch des Wirbels ſtäubend Rennen
Er eben, eben mag erkennen.

Die Drance in ihrem engen Bette
Sich windet um das Felſenriff,
Und drüber her, ein luftig Schiff,
Der Fichte Stamm vereint die Kette.
Am Tag', bei hellem Sonnenſchein,
Wer ſchaute ohne Schwindel drein!
Zudem der Steg, jüngſt überſchwemmt
Von aufgelöſ'ten Schnees Wogen,
Mit Eiſes Rinde iſt umzogen,
Die ſich zu glatten Hügeln dämmt.
Hier ſteht der Greis in ſeinen Nöthen,
Der nichts mehr kann und nichts mehr weiß
Und ſachte noch verſucht zu beten;
Schiebt dann voran die Sohle leiſ'.
Schau! wie auf dem beglaſ'ten Bogen
Um einen Tritt er vorwärts ſchreitet;
Er ſteht nicht feſt, er ſchwankt, er gleitet,
Er iſt verloren — nein — er ſteht.
Mit blindem Glück zurück gezogen
Sein Fuß auf feſtem Grund ſich dreht.
Zuerſt der Alte ganz betäubt
Am Rand der Kluft gefeſſelt bleibt:
Dann, wie aus plötzlichem Entſchluſſe,
Den Mantel ſchiebt er von der Bruſt
Und herzt mit langem, langem Kuſſe,
Dem letzten irdiſchen Genuſſe,
Das Kind in Scheidens bittrer Luſt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <lg type="poem">
              <lg n="21">
                <pb facs="#f0439" n="425"/>
                <l>Den durch des Wirbels &#x017F;täubend Rennen</l><lb/>
                <l>Er eben, eben mag erkennen.</l><lb/>
              </lg>
              <lg n="22">
                <l>Die Drance in ihrem engen Bette</l><lb/>
                <l>Sich windet um das Fel&#x017F;enriff,</l><lb/>
                <l>Und drüber her, ein luftig Schiff,</l><lb/>
                <l>Der Fichte Stamm vereint die Kette.</l><lb/>
                <l>Am Tag', bei hellem Sonnen&#x017F;chein,</l><lb/>
                <l>Wer &#x017F;chaute ohne Schwindel drein!</l><lb/>
                <l>Zudem der Steg, jüng&#x017F;t über&#x017F;chwemmt</l><lb/>
                <l>Von aufgelö&#x017F;'ten Schnees Wogen,</l><lb/>
                <l>Mit Ei&#x017F;es Rinde i&#x017F;t umzogen,</l><lb/>
                <l>Die &#x017F;ich zu glatten Hügeln dämmt.</l><lb/>
                <l>Hier &#x017F;teht der Greis in &#x017F;einen Nöthen,</l><lb/>
                <l>Der nichts mehr kann und nichts mehr weiß</l><lb/>
                <l>Und &#x017F;achte noch ver&#x017F;ucht zu beten;</l><lb/>
                <l>Schiebt dann voran die Sohle lei&#x017F;'.</l><lb/>
                <l>Schau! wie auf dem begla&#x017F;'ten Bogen</l><lb/>
                <l>Um einen Tritt er vorwärts &#x017F;chreitet;</l><lb/>
                <l>Er &#x017F;teht nicht fe&#x017F;t, er &#x017F;chwankt, er gleitet,</l><lb/>
                <l>Er i&#x017F;t verloren &#x2014; nein &#x2014; er &#x017F;teht.</l><lb/>
                <l>Mit blindem Glück zurück gezogen</l><lb/>
                <l>Sein Fuß auf fe&#x017F;tem Grund &#x017F;ich dreht.</l><lb/>
                <l>Zuer&#x017F;t der Alte ganz betäubt</l><lb/>
                <l>Am Rand der Kluft gefe&#x017F;&#x017F;elt bleibt:</l><lb/>
                <l>Dann, wie aus plötzlichem Ent&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e,</l><lb/>
                <l>Den Mantel &#x017F;chiebt er von der Bru&#x017F;t</l><lb/>
                <l>Und herzt mit langem, langem Ku&#x017F;&#x017F;e,</l><lb/>
                <l>Dem letzten irdi&#x017F;chen Genu&#x017F;&#x017F;e,</l><lb/>
                <l>Das Kind in Scheidens bittrer Lu&#x017F;t.</l><lb/>
              </lg>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[425/0439] Den durch des Wirbels ſtäubend Rennen Er eben, eben mag erkennen. Die Drance in ihrem engen Bette Sich windet um das Felſenriff, Und drüber her, ein luftig Schiff, Der Fichte Stamm vereint die Kette. Am Tag', bei hellem Sonnenſchein, Wer ſchaute ohne Schwindel drein! Zudem der Steg, jüngſt überſchwemmt Von aufgelöſ'ten Schnees Wogen, Mit Eiſes Rinde iſt umzogen, Die ſich zu glatten Hügeln dämmt. Hier ſteht der Greis in ſeinen Nöthen, Der nichts mehr kann und nichts mehr weiß Und ſachte noch verſucht zu beten; Schiebt dann voran die Sohle leiſ'. Schau! wie auf dem beglaſ'ten Bogen Um einen Tritt er vorwärts ſchreitet; Er ſteht nicht feſt, er ſchwankt, er gleitet, Er iſt verloren — nein — er ſteht. Mit blindem Glück zurück gezogen Sein Fuß auf feſtem Grund ſich dreht. Zuerſt der Alte ganz betäubt Am Rand der Kluft gefeſſelt bleibt: Dann, wie aus plötzlichem Entſchluſſe, Den Mantel ſchiebt er von der Bruſt Und herzt mit langem, langem Kuſſe, Dem letzten irdiſchen Genuſſe, Das Kind in Scheidens bittrer Luſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/439
Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/439>, abgerufen am 25.04.2024.