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Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

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So ganz entschlafen ist die Luft,
Daß sich vernehmlich reibt der Duft
Und durch die eingewiegten Flächen
Der Glocke Stimme hörbar wird,
Die mild und lockend scheint zu sprechen:
Kommt Alle her, die ihr verirrt!
Der Alte stutzt und bei dem Klingen
Gewaltsam sich zusammen rafft.
"O! könntest du mir junge Kraft
In meine alten Adern singen!"
Doch enger stets in Frostes Haft,
Wie kleine spitze Dornen wühlen,
Muß er's in allen Muskeln fühlen.
Gleich einer Trümmer, überschneit,
Er schleppt sich durch die Einsamkeit;
Sein Mantel, seine grauen Locken
Sie starren unter Eis und Flocken.
Oft von dem schlecht gebahnten Pfad
Der Fuß, getäuscht durch falsches Licht,
Auf eine lockre Masse trat
Und stampfend ihre Decke bricht.
"O namenlose Todesqual!
So nah, so nah dem Hospital!
Nur noch ein Steg, nur noch ein Paß,
O spannt euch an ihr Sehnen laß!
Mein armes Kind! allein um dich,
Nicht um mein Leben kämpfe ich."
So tappt er fort. Die Bahn sich neigt:
Der Alte hat den Sieg erreicht,

So ganz entſchlafen iſt die Luft,
Daß ſich vernehmlich reibt der Duft
Und durch die eingewiegten Flächen
Der Glocke Stimme hörbar wird,
Die mild und lockend ſcheint zu ſprechen:
Kommt Alle her, die ihr verirrt!
Der Alte ſtutzt und bei dem Klingen
Gewaltſam ſich zuſammen rafft.
„O! könnteſt du mir junge Kraft
In meine alten Adern ſingen!“
Doch enger ſtets in Froſtes Haft,
Wie kleine ſpitze Dornen wühlen,
Muß er's in allen Muskeln fühlen.
Gleich einer Trümmer, überſchneit,
Er ſchleppt ſich durch die Einſamkeit;
Sein Mantel, ſeine grauen Locken
Sie ſtarren unter Eis und Flocken.
Oft von dem ſchlecht gebahnten Pfad
Der Fuß, getäuſcht durch falſches Licht,
Auf eine lockre Maſſe trat
Und ſtampfend ihre Decke bricht.
„O namenloſe Todesqual!
So nah, ſo nah dem Hospital!
Nur noch ein Steg, nur noch ein Paß,
O ſpannt euch an ihr Sehnen laß!
Mein armes Kind! allein um dich,
Nicht um mein Leben kämpfe ich.“
So tappt er fort. Die Bahn ſich neigt:
Der Alte hat den Sieg erreicht,

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[424/0438] So ganz entſchlafen iſt die Luft, Daß ſich vernehmlich reibt der Duft Und durch die eingewiegten Flächen Der Glocke Stimme hörbar wird, Die mild und lockend ſcheint zu ſprechen: Kommt Alle her, die ihr verirrt! Der Alte ſtutzt und bei dem Klingen Gewaltſam ſich zuſammen rafft. „O! könnteſt du mir junge Kraft In meine alten Adern ſingen!“ Doch enger ſtets in Froſtes Haft, Wie kleine ſpitze Dornen wühlen, Muß er's in allen Muskeln fühlen. Gleich einer Trümmer, überſchneit, Er ſchleppt ſich durch die Einſamkeit; Sein Mantel, ſeine grauen Locken Sie ſtarren unter Eis und Flocken. Oft von dem ſchlecht gebahnten Pfad Der Fuß, getäuſcht durch falſches Licht, Auf eine lockre Maſſe trat Und ſtampfend ihre Decke bricht. „O namenloſe Todesqual! So nah, ſo nah dem Hospital! Nur noch ein Steg, nur noch ein Paß, O ſpannt euch an ihr Sehnen laß! Mein armes Kind! allein um dich, Nicht um mein Leben kämpfe ich.“ So tappt er fort. Die Bahn ſich neigt: Der Alte hat den Sieg erreicht,

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/438>, abgerufen am 25.04.2024.