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Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

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Hebt ihrer Augen feuchtes Glühn,
Will nach dem Sonnenstande schauen,
Da sieht sie einen Geyer ziehn
Mit einem Lamm in seinen Klauen.

Und schnell gefaßt, der Wildniß Kind,
Tritt sie entgegen seinem Flug:
Der kam daher, wo Menschen sind,
Das ist der Bergesmaid genug.
Doch still! war das nicht Stimmenton
Und Räderknarren? still! sie lauscht --
Und wirklich, durch die Nadeln schon
Die schwere Kutsche ächzt und rauscht.
"He, Mädchen!" ruft es aus dem Schlag,
Mit feinem Knix tritt sie heran:
"Zeig uns zum Dorf die Wege nach,
Wir fuhren irre in dem Tann!" --
"Herr," spricht sie lachend, "nehmt mich auf,
Auch ich bin irr' und führ' Euch doch."
"Nun wohl, du schmuckes Kind, steig auf,
Nur frisch hinauf, du zögerst noch?"
"Herr, was ich weiß, ist nur gering,
Doch führt es Euch zu Menschen hin,
Und das ist schon ein köstlich Ding
Im Wald, mit Räuberhorden drin:
Seht, einen Weih am Bergeskamm
Sah steigen ich aus jenen Gründen,
Der in den Fängen trug ein Lamm;
Dort muß sich eine Heerde finden." --

Hebt ihrer Augen feuchtes Glühn,
Will nach dem Sonnenſtande ſchauen,
Da ſieht ſie einen Geyer ziehn
Mit einem Lamm in ſeinen Klauen.

Und ſchnell gefaßt, der Wildniß Kind,
Tritt ſie entgegen ſeinem Flug:
Der kam daher, wo Menſchen ſind,
Das iſt der Bergesmaid genug.
Doch ſtill! war das nicht Stimmenton
Und Räderknarren? ſtill! ſie lauſcht —
Und wirklich, durch die Nadeln ſchon
Die ſchwere Kutſche ächzt und rauſcht.
„He, Mädchen!“ ruft es aus dem Schlag,
Mit feinem Knix tritt ſie heran:
„Zeig uns zum Dorf die Wege nach,
Wir fuhren irre in dem Tann!“ —
„Herr,“ ſpricht ſie lachend, „nehmt mich auf,
Auch ich bin irr' und führ' Euch doch.“
„Nun wohl, du ſchmuckes Kind, ſteig auf,
Nur friſch hinauf, du zögerſt noch?“
„Herr, was ich weiß, iſt nur gering,
Doch führt es Euch zu Menſchen hin,
Und das iſt ſchon ein köſtlich Ding
Im Wald, mit Räuberhorden drin:
Seht, einen Weih am Bergeskamm
Sah ſteigen ich aus jenen Gründen,
Der in den Fängen trug ein Lamm;
Dort muß ſich eine Heerde finden.“ —
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[323/0337] Hebt ihrer Augen feuchtes Glühn, Will nach dem Sonnenſtande ſchauen, Da ſieht ſie einen Geyer ziehn Mit einem Lamm in ſeinen Klauen. Und ſchnell gefaßt, der Wildniß Kind, Tritt ſie entgegen ſeinem Flug: Der kam daher, wo Menſchen ſind, Das iſt der Bergesmaid genug. Doch ſtill! war das nicht Stimmenton Und Räderknarren? ſtill! ſie lauſcht — Und wirklich, durch die Nadeln ſchon Die ſchwere Kutſche ächzt und rauſcht. „He, Mädchen!“ ruft es aus dem Schlag, Mit feinem Knix tritt ſie heran: „Zeig uns zum Dorf die Wege nach, Wir fuhren irre in dem Tann!“ — „Herr,“ ſpricht ſie lachend, „nehmt mich auf, Auch ich bin irr' und führ' Euch doch.“ „Nun wohl, du ſchmuckes Kind, ſteig auf, Nur friſch hinauf, du zögerſt noch?“ „Herr, was ich weiß, iſt nur gering, Doch führt es Euch zu Menſchen hin, Und das iſt ſchon ein köſtlich Ding Im Wald, mit Räuberhorden drin: Seht, einen Weih am Bergeskamm Sah ſteigen ich aus jenen Gründen, Der in den Fängen trug ein Lamm; Dort muß ſich eine Heerde finden.“ —

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/337>, abgerufen am 23.04.2024.