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Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

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"Madame, wir haben heut Mariatag."
So hoch im Mond? sie kann sich nicht besinnen. --
Wie war es nur? -- doch ihr Gehirn ist schwach,
Und leise suchend zieht sie aus den Linnen
Ein Häubchen, in dem Strale kümmerlich
Läßt sie den Faden in die Nadel gleiten;
So ganz verborgen will sie es bereiten,
Und leise, leise zieht sie Stich um Stich.
Da öffnet knarrend sich die Kammerthür,
Vorsicht'ge Schritte über'n Teppich schleichen.
"Ich schlafe nicht, Rainer, komm her, komm hier!
Wann wird man endlich mir den Knaben reichen?"
Der Gatte blickt verstohlen himmelwärts,
Küßt wie ein Hauch die kleinen heißen Hände:
"Geduld, Geduld, mein Liebchen, bis zum Ende!
Du bist noch gar zu leidend, gutes Herz."
"Du duftest Weihrauch, Mann." -- "Ich war im Dom;
Schlaf, Kind"; und wieder gleitet er von dannen.
Sie aber näht, und liebliches Phantom
Spielt um ihr Aug' von Auen, Blumen, Tannen. --
Ach, wenn du wieder siehst die grüne Au,
Siehst über einem kleinen Hügel schwanken
Den Tannenzweig und Blumen drüber ranken,
Dann tröste Gott dich, arme junge Frau!

„Madame, wir haben heut Mariatag.“
So hoch im Mond? ſie kann ſich nicht beſinnen. —
Wie war es nur? — doch ihr Gehirn iſt ſchwach,
Und leiſe ſuchend zieht ſie aus den Linnen
Ein Häubchen, in dem Strale kümmerlich
Läßt ſie den Faden in die Nadel gleiten;
So ganz verborgen will ſie es bereiten,
Und leiſe, leiſe zieht ſie Stich um Stich.
Da öffnet knarrend ſich die Kammerthür,
Vorſicht'ge Schritte über'n Teppich ſchleichen.
„Ich ſchlafe nicht, Rainer, komm her, komm hier!
Wann wird man endlich mir den Knaben reichen?“
Der Gatte blickt verſtohlen himmelwärts,
Küßt wie ein Hauch die kleinen heißen Hände:
„Geduld, Geduld, mein Liebchen, bis zum Ende!
Du biſt noch gar zu leidend, gutes Herz.“
„Du dufteſt Weihrauch, Mann.“ — „Ich war im Dom;
Schlaf, Kind“; und wieder gleitet er von dannen.
Sie aber näht, und liebliches Phantom
Spielt um ihr Aug' von Auen, Blumen, Tannen. —
Ach, wenn du wieder ſiehſt die grüne Au,
Siehſt über einem kleinen Hügel ſchwanken
Den Tannenzweig und Blumen drüber ranken,
Dann tröſte Gott dich, arme junge Frau!

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[183/0197] „Madame, wir haben heut Mariatag.“ So hoch im Mond? ſie kann ſich nicht beſinnen. — Wie war es nur? — doch ihr Gehirn iſt ſchwach, Und leiſe ſuchend zieht ſie aus den Linnen Ein Häubchen, in dem Strale kümmerlich Läßt ſie den Faden in die Nadel gleiten; So ganz verborgen will ſie es bereiten, Und leiſe, leiſe zieht ſie Stich um Stich. Da öffnet knarrend ſich die Kammerthür, Vorſicht'ge Schritte über'n Teppich ſchleichen. „Ich ſchlafe nicht, Rainer, komm her, komm hier! Wann wird man endlich mir den Knaben reichen?“ Der Gatte blickt verſtohlen himmelwärts, Küßt wie ein Hauch die kleinen heißen Hände: „Geduld, Geduld, mein Liebchen, bis zum Ende! Du biſt noch gar zu leidend, gutes Herz.“ „Du dufteſt Weihrauch, Mann.“ — „Ich war im Dom; Schlaf, Kind“; und wieder gleitet er von dannen. Sie aber näht, und liebliches Phantom Spielt um ihr Aug' von Auen, Blumen, Tannen. — Ach, wenn du wieder ſiehſt die grüne Au, Siehſt über einem kleinen Hügel ſchwanken Den Tannenzweig und Blumen drüber ranken, Dann tröſte Gott dich, arme junge Frau!

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/197>, abgerufen am 28.03.2024.