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Dohm, Hedwig: Erziehung zum Stimmrecht der Frau. Berlin, 1910 (= Schriften des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, Bd. 6).

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dieser Geist; kein Entrinnen möglich. Von ihm bedrängt, mußte
eine hohe Obrigkeit sich notgedrungen zu einer Reformierung
der weiblichen Bildungsanstalten entschließen, die bis in die Neuzeit
hinein alles vermieden, was den weiblichen Horizont erweitere,
alles bevorzugten, was ihn einzuengen versprach.

Nicht willig, fröhlichen Herzens, vielmehr mißvergnügt,
zögernd, karg, voller Halbheiten wurden die Reformen ins Werk
gesetzt. Die Koedukation ausgeschlossen. Wir aber fordern für
das weibliche Kind dieselben Bildungsmöglichkeiten, die dem
männlichen Kinde gewährleistet sind. Und wir wollen die gemein-
same Erziehung der Geschlechter. Durch die Trennung der Knaben
und Mädchen in der Schule wird von vornherein die Geschlechts-
unterschiedlichkeit scharf betont, wird darauf hingewiesen, daß dem
Knaben anderes - das heißt mehr gebühre, als dem Mädchen.
Und damit der Grund gelegt zu der Geringschätzung des Knaben
dem Mädchen gegenüber. Eine Geringschätzung, die konsequenter-
weise zur Verweigerung des Stimmrechts führen mußte.

Die kleinen Kindermenschen wissen von ihrem Geschlecht
nichts. Künstlich zieht man sie von Anfang an zur Unterschied-
lichkeit auf, suggeriert ihnen schon durch das Spielzeug die
Wesensart, die sie haben sollen. Dem Mädchen die Puppe, dem
Knaben die Soldaten.

Je unkultivierter ein Land ist, je radikaler wird die Trennung
der Geschlechter gehandhabt. Vor nicht allzulanger Zeit wurde
in den Straßen Konstantinopels ein junges Mädchen vom Pöbel
zerrissen, das gewagt hatte, in europäischer Kleidung auf offener
Straße mit einem männlichen Wesen - es war ihr Bruder -
zu sprechen.

Der Leiter der Wickersdorfer Schulgemeinde widmet der
Koedukation beredte Worte: "Der Typus der Menschen ist weder
Mann noch Weib, sondern der Jnbegriff beider. Eine wahre
Menschenerziehung darf also nicht einseitig der männlichen oder
der weiblichen Natur angepaßt sein ... Der Pädagoge soll
nicht mehr Knaben und Mädchen kennen, sondern junge
Menschen. ... Nur das für beide Geschlechter Wertvolle ent-
spricht echtem Menschentum ... Gibt es ein spezifisch männliches
oder weibliches Ziel, auf das hin dem Leben Richtung gegeben
werden soll? ... Schon in der Jugend sollen beide Geschlechter
nicht nur dieselbe Sprache sprechen und verstehen lernen, sondern
sie auch miteinander sprechen ... Hier, wo sie einander in gleicher
Richtung streben und sich entwickeln sehen, sollen sie den großen
Glauben an ineinander finden, aus dem allein die Achtung vor
dem anderen Geschlecht entspringen kann ... Hier in der Jugend,
wo sie noch Menschen im edlen Sinne des Wortes sein dürfen,
sollen sie auch einmal die Menschheit realisiert gesehen haben.

dieser Geist; kein Entrinnen möglich. Von ihm bedrängt, mußte
eine hohe Obrigkeit sich notgedrungen zu einer Reformierung
der weiblichen Bildungsanstalten entschließen, die bis in die Neuzeit
hinein alles vermieden, was den weiblichen Horizont erweitere,
alles bevorzugten, was ihn einzuengen versprach.

Nicht willig, fröhlichen Herzens, vielmehr mißvergnügt,
zögernd, karg, voller Halbheiten wurden die Reformen ins Werk
gesetzt. Die Koedukation ausgeschlossen. Wir aber fordern für
das weibliche Kind dieselben Bildungsmöglichkeiten, die dem
männlichen Kinde gewährleistet sind. Und wir wollen die gemein-
same Erziehung der Geschlechter. Durch die Trennung der Knaben
und Mädchen in der Schule wird von vornherein die Geschlechts-
unterschiedlichkeit scharf betont, wird darauf hingewiesen, daß dem
Knaben anderes – das heißt mehr gebühre, als dem Mädchen.
Und damit der Grund gelegt zu der Geringschätzung des Knaben
dem Mädchen gegenüber. Eine Geringschätzung, die konsequenter-
weise zur Verweigerung des Stimmrechts führen mußte.

Die kleinen Kindermenschen wissen von ihrem Geschlecht
nichts. Künstlich zieht man sie von Anfang an zur Unterschied-
lichkeit auf, suggeriert ihnen schon durch das Spielzeug die
Wesensart, die sie haben sollen. Dem Mädchen die Puppe, dem
Knaben die Soldaten.

Je unkultivierter ein Land ist, je radikaler wird die Trennung
der Geschlechter gehandhabt. Vor nicht allzulanger Zeit wurde
in den Straßen Konstantinopels ein junges Mädchen vom Pöbel
zerrissen, das gewagt hatte, in europäischer Kleidung auf offener
Straße mit einem männlichen Wesen – es war ihr Bruder –
zu sprechen.

Der Leiter der Wickersdorfer Schulgemeinde widmet der
Koedukation beredte Worte: „Der Typus der Menschen ist weder
Mann noch Weib, sondern der Jnbegriff beider. Eine wahre
Menschenerziehung darf also nicht einseitig der männlichen oder
der weiblichen Natur angepaßt sein … Der Pädagoge soll
nicht mehr Knaben und Mädchen kennen, sondern junge
Menschen. … Nur das für beide Geschlechter Wertvolle ent-
spricht echtem Menschentum … Gibt es ein spezifisch männliches
oder weibliches Ziel, auf das hin dem Leben Richtung gegeben
werden soll? … Schon in der Jugend sollen beide Geschlechter
nicht nur dieselbe Sprache sprechen und verstehen lernen, sondern
sie auch miteinander sprechen … Hier, wo sie einander in gleicher
Richtung streben und sich entwickeln sehen, sollen sie den großen
Glauben an ineinander finden, aus dem allein die Achtung vor
dem anderen Geschlecht entspringen kann … Hier in der Jugend,
wo sie noch Menschen im edlen Sinne des Wortes sein dürfen,
sollen sie auch einmal die Menschheit realisiert gesehen haben.

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[4/0005] dieser Geist; kein Entrinnen möglich. Von ihm bedrängt, mußte eine hohe Obrigkeit sich notgedrungen zu einer Reformierung der weiblichen Bildungsanstalten entschließen, die bis in die Neuzeit hinein alles vermieden, was den weiblichen Horizont erweitere, alles bevorzugten, was ihn einzuengen versprach. Nicht willig, fröhlichen Herzens, vielmehr mißvergnügt, zögernd, karg, voller Halbheiten wurden die Reformen ins Werk gesetzt. Die Koedukation ausgeschlossen. Wir aber fordern für das weibliche Kind dieselben Bildungsmöglichkeiten, die dem männlichen Kinde gewährleistet sind. Und wir wollen die gemein- same Erziehung der Geschlechter. Durch die Trennung der Knaben und Mädchen in der Schule wird von vornherein die Geschlechts- unterschiedlichkeit scharf betont, wird darauf hingewiesen, daß dem Knaben anderes – das heißt mehr gebühre, als dem Mädchen. Und damit der Grund gelegt zu der Geringschätzung des Knaben dem Mädchen gegenüber. Eine Geringschätzung, die konsequenter- weise zur Verweigerung des Stimmrechts führen mußte. Die kleinen Kindermenschen wissen von ihrem Geschlecht nichts. Künstlich zieht man sie von Anfang an zur Unterschied- lichkeit auf, suggeriert ihnen schon durch das Spielzeug die Wesensart, die sie haben sollen. Dem Mädchen die Puppe, dem Knaben die Soldaten. Je unkultivierter ein Land ist, je radikaler wird die Trennung der Geschlechter gehandhabt. Vor nicht allzulanger Zeit wurde in den Straßen Konstantinopels ein junges Mädchen vom Pöbel zerrissen, das gewagt hatte, in europäischer Kleidung auf offener Straße mit einem männlichen Wesen – es war ihr Bruder – zu sprechen. Der Leiter der Wickersdorfer Schulgemeinde widmet der Koedukation beredte Worte: „Der Typus der Menschen ist weder Mann noch Weib, sondern der Jnbegriff beider. Eine wahre Menschenerziehung darf also nicht einseitig der männlichen oder der weiblichen Natur angepaßt sein … Der Pädagoge soll nicht mehr Knaben und Mädchen kennen, sondern junge Menschen. … Nur das für beide Geschlechter Wertvolle ent- spricht echtem Menschentum … Gibt es ein spezifisch männliches oder weibliches Ziel, auf das hin dem Leben Richtung gegeben werden soll? … Schon in der Jugend sollen beide Geschlechter nicht nur dieselbe Sprache sprechen und verstehen lernen, sondern sie auch miteinander sprechen … Hier, wo sie einander in gleicher Richtung streben und sich entwickeln sehen, sollen sie den großen Glauben an ineinander finden, aus dem allein die Achtung vor dem anderen Geschlecht entspringen kann … Hier in der Jugend, wo sie noch Menschen im edlen Sinne des Wortes sein dürfen, sollen sie auch einmal die Menschheit realisiert gesehen haben.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-09-14T13:15:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-09-14T13:15:52Z)

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja; /p>




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Zitationshilfe: Dohm, Hedwig: Erziehung zum Stimmrecht der Frau. Berlin, 1910 (= Schriften des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, Bd. 6), S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dohm_erziehung_1910/5>, abgerufen am 29.03.2024.