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Diefenbach, Johann: Reformation oder Revolution. Mainz, 1897.

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den sog. Pietismus, durch Spener, Lange, Gerhardt, Arndt
u. s. w. "Jn dieser Zeit," sagt Dorner, "in welcher Kalixt
und Spener wirkten, besann sich die protestantische Kirche (!),
giebt das Glaubensgezänk auf, fängt an auf christliche Hoff-
nung und Liebe Wert zu legen. Der Mittelpunkt dieser re-
formierenden
Richtung war die Universität Halle. Spener
ließ 1684 sein Werk "Klagen über das verdorbene Chri-
stentum" erscheinen. War bis dahin nur ein bloß theore-
tisches Glaubensleben (welches Dorner als das "scholastische"
bezeichnet) bekannt, so wollte Spener ihm ein entgegengesetztes
praktisches Christentum folgen lassen1)." Der Pietismus ver-
warf die lutherische justificatio forensis, die äußere Zurech-
nung von Christi Gerechtigkeit; er verlangt eine innere Ge-
rechtigkeit, die in einer Regeneration des Menschen bestehe,
welcher die vocatio, d. h. der Ruf der Gnade von Gott
vorausgehe2).

Die dritten Versuche, eine sichtbare Kirche herzustellen,
sind oftmals im Laufe der Zeit gemacht worden, jedoch immer
fehlgeschlagen. Wie kann man eine sichtbare Kirche bilden
wollen, wenn hierzu jede Berechtigung und alle Voraussetzungen
fehlen? Die Befreiung von der Auktorität der Kirche war ja
Luthers erste und wichtigste That. Eine Kirche bilden wollen,
heißt das nicht Luther korrigieren und sein Werk diskreditieren?
Es bleibt also diese Aufgabe eine permanente Sisyphus-Arbeit.
Ein ebenso unbefriedigendes Resultat kann in Luthers Kardinal-

1) Dorner, Gesch. der protestantischen Theologie, S. 628.
2) Dorner läßt es nur als einen Schein gelten, als ob das Werk
der Reformation bezw. deren Wirkungen ein Chaos, eine Auflösung
aller Einheit gewesen wäre! Darin irrt er, wie uns die Gegenwart
vom Gegenteil überzeugt. Nur eine negative Einheit ist vorhanden:
der gemeinsame Haß gegen Rom.

den ſog. Pietismus, durch Spener, Lange, Gerhardt, Arndt
u. ſ. w. „Jn dieſer Zeit,‟ ſagt Dorner, „in welcher Kalixt
und Spener wirkten, beſann ſich die proteſtantiſche Kirche (!),
giebt das Glaubensgezänk auf, fängt an auf chriſtliche Hoff-
nung und Liebe Wert zu legen. Der Mittelpunkt dieſer re-
formierenden
Richtung war die Univerſität Halle. Spener
ließ 1684 ſein Werk „Klagen über das verdorbene Chri-
ſtentum‟ erſcheinen. War bis dahin nur ein bloß theore-
tiſches Glaubensleben (welches Dorner als das „ſcholaſtiſche‟
bezeichnet) bekannt, ſo wollte Spener ihm ein entgegengeſetztes
praktiſches Chriſtentum folgen laſſen1).‟ Der Pietismus ver-
warf die lutheriſche justificatio forensis, die äußere Zurech-
nung von Chriſti Gerechtigkeit; er verlangt eine innere Ge-
rechtigkeit, die in einer Regeneration des Menſchen beſtehe,
welcher die vocatio, d. h. der Ruf der Gnade von Gott
vorausgehe2).

Die dritten Verſuche, eine ſichtbare Kirche herzuſtellen,
ſind oftmals im Laufe der Zeit gemacht worden, jedoch immer
fehlgeſchlagen. Wie kann man eine ſichtbare Kirche bilden
wollen, wenn hierzu jede Berechtigung und alle Vorausſetzungen
fehlen? Die Befreiung von der Auktorität der Kirche war ja
Luthers erſte und wichtigſte That. Eine Kirche bilden wollen,
heißt das nicht Luther korrigieren und ſein Werk diskreditieren?
Es bleibt alſo dieſe Aufgabe eine permanente Siſyphus-Arbeit.
Ein ebenſo unbefriedigendes Reſultat kann in Luthers Kardinal-

1) Dorner, Geſch. der proteſtantiſchen Theologie, S. 628.
2) Dorner läßt es nur als einen Schein gelten, als ob das Werk
der Reformation bezw. deren Wirkungen ein Chaos, eine Auflöſung
aller Einheit geweſen wäre! Darin irrt er, wie uns die Gegenwart
vom Gegenteil überzeugt. Nur eine negative Einheit iſt vorhanden:
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[34/0046] den ſog. Pietismus, durch Spener, Lange, Gerhardt, Arndt u. ſ. w. „Jn dieſer Zeit,‟ ſagt Dorner, „in welcher Kalixt und Spener wirkten, beſann ſich die proteſtantiſche Kirche (!), giebt das Glaubensgezänk auf, fängt an auf chriſtliche Hoff- nung und Liebe Wert zu legen. Der Mittelpunkt dieſer re- formierenden Richtung war die Univerſität Halle. Spener ließ 1684 ſein Werk „Klagen über das verdorbene Chri- ſtentum‟ erſcheinen. War bis dahin nur ein bloß theore- tiſches Glaubensleben (welches Dorner als das „ſcholaſtiſche‟ bezeichnet) bekannt, ſo wollte Spener ihm ein entgegengeſetztes praktiſches Chriſtentum folgen laſſen 1).‟ Der Pietismus ver- warf die lutheriſche justificatio forensis, die äußere Zurech- nung von Chriſti Gerechtigkeit; er verlangt eine innere Ge- rechtigkeit, die in einer Regeneration des Menſchen beſtehe, welcher die vocatio, d. h. der Ruf der Gnade von Gott vorausgehe 2). Die dritten Verſuche, eine ſichtbare Kirche herzuſtellen, ſind oftmals im Laufe der Zeit gemacht worden, jedoch immer fehlgeſchlagen. Wie kann man eine ſichtbare Kirche bilden wollen, wenn hierzu jede Berechtigung und alle Vorausſetzungen fehlen? Die Befreiung von der Auktorität der Kirche war ja Luthers erſte und wichtigſte That. Eine Kirche bilden wollen, heißt das nicht Luther korrigieren und ſein Werk diskreditieren? Es bleibt alſo dieſe Aufgabe eine permanente Siſyphus-Arbeit. Ein ebenſo unbefriedigendes Reſultat kann in Luthers Kardinal- 1) Dorner, Geſch. der proteſtantiſchen Theologie, S. 628. 2) Dorner läßt es nur als einen Schein gelten, als ob das Werk der Reformation bezw. deren Wirkungen ein Chaos, eine Auflöſung aller Einheit geweſen wäre! Darin irrt er, wie uns die Gegenwart vom Gegenteil überzeugt. Nur eine negative Einheit iſt vorhanden: der gemeinſame Haß gegen Rom.

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Zitationshilfe: Diefenbach, Johann: Reformation oder Revolution. Mainz, 1897, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diefenbach_reformation_1897/46>, abgerufen am 20.04.2024.