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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
Wurzeln losgerissen, zu Wirkungen zusammengestellt wurden, die
ihren eigenen Reiz haben; aber von der spezifischen Größe der
französischen Auffassung ist darin nichts (Beispiele: Kathedralen
von Salisbury, Lincoln, Wallis). -- Die mittlere Epoche, die das
14. Jahrhundert einnimmt, nähert sich mehr der festländischen
Weise; ein innerlich geschlossener Stil entsteht auch jetzt nicht,
wenn auch einzelne ernste Raumschöpfungen für England nach
dieser Richtung einen Höhepunkt bedeuten (Kathedrale von York,
Westminsterabtei). -- Kurz vor 1400 tritt noch einmal eine scharfe
Wendung ein; so beginnt die letzte Epoche, die am längsten dauert,
von der Zeit Chaucers bis auf die Shakespeares, und die dem kon-
tinentalen Beobachter besonders englisch erscheint, in ihrer kühlen
und sauberen Eleganz von der uns geläufigen Spätgotik recht
abweichend. Kenntliche Merkmale sind die Häufung gerader,
rechtwinklig sich durchkreuzender Glieder (danach: Perpendikular-
oder Rektilinearstil), die Abflachung des Spitzbogens zum Tudor-
bogen, die häufige Lossagung vom Steingewölbe zugunsten zier-
lich spielender Holzkonstruktionen. (Beispiele: Langhaus der
Kathedrale von Winchester, Kapelle Heinrichs VII. in London,
St. Georgskapelle in Schloß Windsor.) Ein exklusiver Kirchenstil
ist es überhaupt nicht mehr. Die zahlreichen Profanbauten, Königs-
und Baronialschlösser, Kapitel- und Universitätsbauten sind fast
noch in höherem Grade für seinen Charakter bestimmend gewesen.
Bemerkenswert ist, daß die Engländer selbst unter vollster Herr-
schaft der Renaissance für ihre Gotik immer noch Sympathien
behalten haben. Christopher Wren, der Erbauer der Paulskirche
in London, hat an gotischen Kirchen durchaus stilgerechte Re-
staurationsarbeiten ausgeführt; im 18. Jahrhundert ließen sich
englische und schottische Lords Schlösser in einem Stil bauen,
der gotisch wenigstens sein sollte. 1740 gab Langley ein gotisches
Musterbuch heraus, und daß das 19. Jahrhundert selbst auf dem
Festlande bei seinen neugotischen Repristinationen, wenigstens
im Schloßbau, am liebsten durch die englische Brille sah, dafür
sind uns die Belege nur zu bekannt.

Am längsten leistete Deutschland dem gotischen Stil
Widerstand; Widerstand ist das richtige Wort; denn die deutschen


Die Kunst des Mittelalters
Wurzeln losgerissen, zu Wirkungen zusammengestellt wurden, die
ihren eigenen Reiz haben; aber von der spezifischen Größe der
französischen Auffassung ist darin nichts (Beispiele: Kathedralen
von Salisbury, Lincoln, Wallis). — Die mittlere Epoche, die das
14. Jahrhundert einnimmt, nähert sich mehr der festländischen
Weise; ein innerlich geschlossener Stil entsteht auch jetzt nicht,
wenn auch einzelne ernste Raumschöpfungen für England nach
dieser Richtung einen Höhepunkt bedeuten (Kathedrale von York,
Westminsterabtei). — Kurz vor 1400 tritt noch einmal eine scharfe
Wendung ein; so beginnt die letzte Epoche, die am längsten dauert,
von der Zeit Chaucers bis auf die Shakespeares, und die dem kon-
tinentalen Beobachter besonders englisch erscheint, in ihrer kühlen
und sauberen Eleganz von der uns geläufigen Spätgotik recht
abweichend. Kenntliche Merkmale sind die Häufung gerader,
rechtwinklig sich durchkreuzender Glieder (danach: Perpendikular-
oder Rektilinearstil), die Abflachung des Spitzbogens zum Tudor-
bogen, die häufige Lossagung vom Steingewölbe zugunsten zier-
lich spielender Holzkonstruktionen. (Beispiele: Langhaus der
Kathedrale von Winchester, Kapelle Heinrichs VII. in London,
St. Georgskapelle in Schloß Windsor.) Ein exklusiver Kirchenstil
ist es überhaupt nicht mehr. Die zahlreichen Profanbauten, Königs-
und Baronialschlösser, Kapitel- und Universitätsbauten sind fast
noch in höherem Grade für seinen Charakter bestimmend gewesen.
Bemerkenswert ist, daß die Engländer selbst unter vollster Herr-
schaft der Renaissance für ihre Gotik immer noch Sympathien
behalten haben. Christopher Wren, der Erbauer der Paulskirche
in London, hat an gotischen Kirchen durchaus stilgerechte Re-
staurationsarbeiten ausgeführt; im 18. Jahrhundert ließen sich
englische und schottische Lords Schlösser in einem Stil bauen,
der gotisch wenigstens sein sollte. 1740 gab Langley ein gotisches
Musterbuch heraus, und daß das 19. Jahrhundert selbst auf dem
Festlande bei seinen neugotischen Repristinationen, wenigstens
im Schloßbau, am liebsten durch die englische Brille sah, dafür
sind uns die Belege nur zu bekannt.

Am längsten leistete Deutschland dem gotischen Stil
Widerstand; Widerstand ist das richtige Wort; denn die deutschen

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[30/0044] Die Kunst des Mittelalters Wurzeln losgerissen, zu Wirkungen zusammengestellt wurden, die ihren eigenen Reiz haben; aber von der spezifischen Größe der französischen Auffassung ist darin nichts (Beispiele: Kathedralen von Salisbury, Lincoln, Wallis). — Die mittlere Epoche, die das 14. Jahrhundert einnimmt, nähert sich mehr der festländischen Weise; ein innerlich geschlossener Stil entsteht auch jetzt nicht, wenn auch einzelne ernste Raumschöpfungen für England nach dieser Richtung einen Höhepunkt bedeuten (Kathedrale von York, Westminsterabtei). — Kurz vor 1400 tritt noch einmal eine scharfe Wendung ein; so beginnt die letzte Epoche, die am längsten dauert, von der Zeit Chaucers bis auf die Shakespeares, und die dem kon- tinentalen Beobachter besonders englisch erscheint, in ihrer kühlen und sauberen Eleganz von der uns geläufigen Spätgotik recht abweichend. Kenntliche Merkmale sind die Häufung gerader, rechtwinklig sich durchkreuzender Glieder (danach: Perpendikular- oder Rektilinearstil), die Abflachung des Spitzbogens zum Tudor- bogen, die häufige Lossagung vom Steingewölbe zugunsten zier- lich spielender Holzkonstruktionen. (Beispiele: Langhaus der Kathedrale von Winchester, Kapelle Heinrichs VII. in London, St. Georgskapelle in Schloß Windsor.) Ein exklusiver Kirchenstil ist es überhaupt nicht mehr. Die zahlreichen Profanbauten, Königs- und Baronialschlösser, Kapitel- und Universitätsbauten sind fast noch in höherem Grade für seinen Charakter bestimmend gewesen. Bemerkenswert ist, daß die Engländer selbst unter vollster Herr- schaft der Renaissance für ihre Gotik immer noch Sympathien behalten haben. Christopher Wren, der Erbauer der Paulskirche in London, hat an gotischen Kirchen durchaus stilgerechte Re- staurationsarbeiten ausgeführt; im 18. Jahrhundert ließen sich englische und schottische Lords Schlösser in einem Stil bauen, der gotisch wenigstens sein sollte. 1740 gab Langley ein gotisches Musterbuch heraus, und daß das 19. Jahrhundert selbst auf dem Festlande bei seinen neugotischen Repristinationen, wenigstens im Schloßbau, am liebsten durch die englische Brille sah, dafür sind uns die Belege nur zu bekannt. Am längsten leistete Deutschland dem gotischen Stil Widerstand; Widerstand ist das richtige Wort; denn die deutschen

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/44>, abgerufen am 29.03.2024.