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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
ihn an. Das System, das sie um 1150 in ihrer burgundischen
Heimat ausgebildet hatten, unterlag dort dem französischen schon
gegen 1200, aber im Ausland lebte es noch lange fort. Der deutsche
Übergangsstil ist aufs stärkste über den engern Kreis des Ordens
hinaus von ihm beeinflußt; Italien hat am frühesten und längere
Zeit allein in dieser Gestalt die Gotik gekannt; eben aus dieser
Quelle schöpft Spanien und schöpfen die Kreuzfahrerkirchen des
heiligen Landes. Der engen Verbindung mit den Zisterziensern
schuldet die burgundische Frühgotik beides: die Weite ihres äußeren
und die Enge ihres inneren Horizontes, ihre zeitweilig großen Er-
folge und ihr entwicklungsloses Verharren im Primitivismus.

Die Frühgotik des Anjou, die nach der Zeit, in die ihre
kurze Blüte fiel, auch Plantagenetstil genannt wird, hat in den
Kathedralen von Angers und Poitiers Werke von hohem und
eigenartigem Wert hervorgebracht. Zu ihrer Klientel gehörte der
Südwesten mit Ausläufern auf die Pyrenäenhalbinsel. Einige
Anregungen von ihr -- wie nicht zu verkennen ist, wennschon
die näheren Umstände im Dunkel bleiben -- kamen auch nach
Holland und Westfalen. Die Eroberung des Landes durch Philipp
August von Frankreich durchschnitt ihr aber den Lebensnerv.
-- Langsamer, aber unwiderstehlich brachte sich die franzö-
sische Schule zur Geltung. Am frühesten fielen ihr die süd-
lichen Niederlande
zu und so vollständig, daß sie von
der Zentralschule kaum zu trennen sind.

Ebenfalls früh, seit 1175, geriet England in die franzö-
sische Wirkungssphäre. Die normännisch-romanische Baukunst
wurde auf einen Schlag beiseite geworfen, ein radikaler Geschmacks-
wechsel trat ein. Aber wenn er auch durch die Berührung mit der
französischen Schule hervorgerufen war, so drang der französische
Geist doch keineswegs tief ein. Eben weil die Engländer den fran-
zösischen Stil so früh, in einem noch unfertigen Zustand, sich
aneigneten, hatten sie die Freiheit, in die weitere Entwicklung
ihren eigenen, erheblich anders gerichteten Willensinhalt zu legen.
Die strenge konstruktive Gedankenzucht des Vorbildes blieb ihnen
unverständlich oder gleichgültig. Sie faßten die Gotik als eine
neue Dekorationsmethode, deren Einzelformen, von ihren logischen

Die Kunst des Mittelalters
ihn an. Das System, das sie um 1150 in ihrer burgundischen
Heimat ausgebildet hatten, unterlag dort dem französischen schon
gegen 1200, aber im Ausland lebte es noch lange fort. Der deutsche
Übergangsstil ist aufs stärkste über den engern Kreis des Ordens
hinaus von ihm beeinflußt; Italien hat am frühesten und längere
Zeit allein in dieser Gestalt die Gotik gekannt; eben aus dieser
Quelle schöpft Spanien und schöpfen die Kreuzfahrerkirchen des
heiligen Landes. Der engen Verbindung mit den Zisterziensern
schuldet die burgundische Frühgotik beides: die Weite ihres äußeren
und die Enge ihres inneren Horizontes, ihre zeitweilig großen Er-
folge und ihr entwicklungsloses Verharren im Primitivismus.

Die Frühgotik des Anjou, die nach der Zeit, in die ihre
kurze Blüte fiel, auch Plantagenetstil genannt wird, hat in den
Kathedralen von Angers und Poitiers Werke von hohem und
eigenartigem Wert hervorgebracht. Zu ihrer Klientel gehörte der
Südwesten mit Ausläufern auf die Pyrenäenhalbinsel. Einige
Anregungen von ihr — wie nicht zu verkennen ist, wennschon
die näheren Umstände im Dunkel bleiben — kamen auch nach
Holland und Westfalen. Die Eroberung des Landes durch Philipp
August von Frankreich durchschnitt ihr aber den Lebensnerv.
— Langsamer, aber unwiderstehlich brachte sich die franzö-
sische Schule zur Geltung. Am frühesten fielen ihr die süd-
lichen Niederlande
zu und so vollständig, daß sie von
der Zentralschule kaum zu trennen sind.

Ebenfalls früh, seit 1175, geriet England in die franzö-
sische Wirkungssphäre. Die normännisch-romanische Baukunst
wurde auf einen Schlag beiseite geworfen, ein radikaler Geschmacks-
wechsel trat ein. Aber wenn er auch durch die Berührung mit der
französischen Schule hervorgerufen war, so drang der französische
Geist doch keineswegs tief ein. Eben weil die Engländer den fran-
zösischen Stil so früh, in einem noch unfertigen Zustand, sich
aneigneten, hatten sie die Freiheit, in die weitere Entwicklung
ihren eigenen, erheblich anders gerichteten Willensinhalt zu legen.
Die strenge konstruktive Gedankenzucht des Vorbildes blieb ihnen
unverständlich oder gleichgültig. Sie faßten die Gotik als eine
neue Dekorationsmethode, deren Einzelformen, von ihren logischen

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[29/0043] Die Kunst des Mittelalters ihn an. Das System, das sie um 1150 in ihrer burgundischen Heimat ausgebildet hatten, unterlag dort dem französischen schon gegen 1200, aber im Ausland lebte es noch lange fort. Der deutsche Übergangsstil ist aufs stärkste über den engern Kreis des Ordens hinaus von ihm beeinflußt; Italien hat am frühesten und längere Zeit allein in dieser Gestalt die Gotik gekannt; eben aus dieser Quelle schöpft Spanien und schöpfen die Kreuzfahrerkirchen des heiligen Landes. Der engen Verbindung mit den Zisterziensern schuldet die burgundische Frühgotik beides: die Weite ihres äußeren und die Enge ihres inneren Horizontes, ihre zeitweilig großen Er- folge und ihr entwicklungsloses Verharren im Primitivismus. Die Frühgotik des Anjou, die nach der Zeit, in die ihre kurze Blüte fiel, auch Plantagenetstil genannt wird, hat in den Kathedralen von Angers und Poitiers Werke von hohem und eigenartigem Wert hervorgebracht. Zu ihrer Klientel gehörte der Südwesten mit Ausläufern auf die Pyrenäenhalbinsel. Einige Anregungen von ihr — wie nicht zu verkennen ist, wennschon die näheren Umstände im Dunkel bleiben — kamen auch nach Holland und Westfalen. Die Eroberung des Landes durch Philipp August von Frankreich durchschnitt ihr aber den Lebensnerv. — Langsamer, aber unwiderstehlich brachte sich die franzö- sische Schule zur Geltung. Am frühesten fielen ihr die süd- lichen Niederlande zu und so vollständig, daß sie von der Zentralschule kaum zu trennen sind. Ebenfalls früh, seit 1175, geriet England in die franzö- sische Wirkungssphäre. Die normännisch-romanische Baukunst wurde auf einen Schlag beiseite geworfen, ein radikaler Geschmacks- wechsel trat ein. Aber wenn er auch durch die Berührung mit der französischen Schule hervorgerufen war, so drang der französische Geist doch keineswegs tief ein. Eben weil die Engländer den fran- zösischen Stil so früh, in einem noch unfertigen Zustand, sich aneigneten, hatten sie die Freiheit, in die weitere Entwicklung ihren eigenen, erheblich anders gerichteten Willensinhalt zu legen. Die strenge konstruktive Gedankenzucht des Vorbildes blieb ihnen unverständlich oder gleichgültig. Sie faßten die Gotik als eine neue Dekorationsmethode, deren Einzelformen, von ihren logischen

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/43>, abgerufen am 29.03.2024.