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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
Triumph der Arbeit, und er stellt seinen Sieg über die Materie
mit heller Freude ins Licht. Kann man in runder Summe sagen,
daß ein gotischer Bau im Vergleich zu einem gleich großen ro-
manischen dreimal weniger Material braucht, so erfordert er das
Zehnfache an Arbeit. Der gotische Stil wurde nur möglich durch
einen großen Umschwung aller gewerblichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse. Die Entstehung des gotischen Stils fällt zusammen
mit den Anfängen der Geldwirtschaft. An die Energie, mit der
die neuen, nach modernem Maßstab noch immer sehr unvoll-
kommenen Hilfsmitteln ausgenutzt wurden, kann nicht ohne größte
Bewunderung gedacht werden.

Der gotische Stil zeigt sich vom romanischen durch einen tie-
feren Einschnitt nur dort getrennt, wo er als ein fremder eindrang.
Im Lande seines Ursprungs, in Nordfrankreich, ging er in fließen-
dem Übergange aus den älteren Zuständen hervor. Die Schule
der Isle de France war länger als irgendeine andere im Franken-
reich dem Wölbungsproblem ausgewichen; frühestens um 1100
hatte sie, in noch rein romanischen Formen, mit ihren ersten Ver-
suchen begonnen, und schon 1140 erstand der Bau, der den Ruhm
genießt, der Erstgeborene des gotischen Stils zu sein, die Abtei-
kirche St. Denis. Nebenher hatte auch in mehreren Nachbar-
schulen der gotische Kerngedanke, d. i. das Kranzrippengewölbe,
zu keimen begonnen, in der Normandie, im Anjou, in Nordbur-
gund. Entscheidend war doch, daß die frankopicardische, dank
einer eben jetzt einsetzenden, ungemein regsamen Bautätigkeit,
sich an die Spitze stellen konnte. Überall sonst war eine gewisse
Sättigung eingetreten durch die großartigen Leistungen der ersten
Hälfte des Jahrhunderts: hier im Norden war noch alles nach-
zuholen. Die Erfahrungen der älteren Schulen hatte man zur
Verfügung, man hatte frische Kräfte und freie Bahn. Die Schnel-
ligkeit, mit der das neue System sich entfaltete, mit der der Ge-
dankenprozeß sofort in Taten sich umsetzte, stellt das Werden des
gotischen Stils in stärksten Gegensatz zu dem trägen Zeitmaß
der früheren Jahrhunderte. In wenig mehr als 100 Jahren sind
alle Stadien bis zur Vollendung durchlaufen. In dieser Zeit wurden
sämtliche Kathedralkirchen Nordfrankreichs (deren Zahl etwa

Die Kunst des Mittelalters
Triumph der Arbeit, und er stellt seinen Sieg über die Materie
mit heller Freude ins Licht. Kann man in runder Summe sagen,
daß ein gotischer Bau im Vergleich zu einem gleich großen ro-
manischen dreimal weniger Material braucht, so erfordert er das
Zehnfache an Arbeit. Der gotische Stil wurde nur möglich durch
einen großen Umschwung aller gewerblichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse. Die Entstehung des gotischen Stils fällt zusammen
mit den Anfängen der Geldwirtschaft. An die Energie, mit der
die neuen, nach modernem Maßstab noch immer sehr unvoll-
kommenen Hilfsmitteln ausgenutzt wurden, kann nicht ohne größte
Bewunderung gedacht werden.

Der gotische Stil zeigt sich vom romanischen durch einen tie-
feren Einschnitt nur dort getrennt, wo er als ein fremder eindrang.
Im Lande seines Ursprungs, in Nordfrankreich, ging er in fließen-
dem Übergange aus den älteren Zuständen hervor. Die Schule
der Isle de France war länger als irgendeine andere im Franken-
reich dem Wölbungsproblem ausgewichen; frühestens um 1100
hatte sie, in noch rein romanischen Formen, mit ihren ersten Ver-
suchen begonnen, und schon 1140 erstand der Bau, der den Ruhm
genießt, der Erstgeborene des gotischen Stils zu sein, die Abtei-
kirche St. Denis. Nebenher hatte auch in mehreren Nachbar-
schulen der gotische Kerngedanke, d. i. das Kranzrippengewölbe,
zu keimen begonnen, in der Normandie, im Anjou, in Nordbur-
gund. Entscheidend war doch, daß die frankopicardische, dank
einer eben jetzt einsetzenden, ungemein regsamen Bautätigkeit,
sich an die Spitze stellen konnte. Überall sonst war eine gewisse
Sättigung eingetreten durch die großartigen Leistungen der ersten
Hälfte des Jahrhunderts: hier im Norden war noch alles nach-
zuholen. Die Erfahrungen der älteren Schulen hatte man zur
Verfügung, man hatte frische Kräfte und freie Bahn. Die Schnel-
ligkeit, mit der das neue System sich entfaltete, mit der der Ge-
dankenprozeß sofort in Taten sich umsetzte, stellt das Werden des
gotischen Stils in stärksten Gegensatz zu dem trägen Zeitmaß
der früheren Jahrhunderte. In wenig mehr als 100 Jahren sind
alle Stadien bis zur Vollendung durchlaufen. In dieser Zeit wurden
sämtliche Kathedralkirchen Nordfrankreichs (deren Zahl etwa

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[25/0039] Die Kunst des Mittelalters Triumph der Arbeit, und er stellt seinen Sieg über die Materie mit heller Freude ins Licht. Kann man in runder Summe sagen, daß ein gotischer Bau im Vergleich zu einem gleich großen ro- manischen dreimal weniger Material braucht, so erfordert er das Zehnfache an Arbeit. Der gotische Stil wurde nur möglich durch einen großen Umschwung aller gewerblichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Die Entstehung des gotischen Stils fällt zusammen mit den Anfängen der Geldwirtschaft. An die Energie, mit der die neuen, nach modernem Maßstab noch immer sehr unvoll- kommenen Hilfsmitteln ausgenutzt wurden, kann nicht ohne größte Bewunderung gedacht werden. Der gotische Stil zeigt sich vom romanischen durch einen tie- feren Einschnitt nur dort getrennt, wo er als ein fremder eindrang. Im Lande seines Ursprungs, in Nordfrankreich, ging er in fließen- dem Übergange aus den älteren Zuständen hervor. Die Schule der Isle de France war länger als irgendeine andere im Franken- reich dem Wölbungsproblem ausgewichen; frühestens um 1100 hatte sie, in noch rein romanischen Formen, mit ihren ersten Ver- suchen begonnen, und schon 1140 erstand der Bau, der den Ruhm genießt, der Erstgeborene des gotischen Stils zu sein, die Abtei- kirche St. Denis. Nebenher hatte auch in mehreren Nachbar- schulen der gotische Kerngedanke, d. i. das Kranzrippengewölbe, zu keimen begonnen, in der Normandie, im Anjou, in Nordbur- gund. Entscheidend war doch, daß die frankopicardische, dank einer eben jetzt einsetzenden, ungemein regsamen Bautätigkeit, sich an die Spitze stellen konnte. Überall sonst war eine gewisse Sättigung eingetreten durch die großartigen Leistungen der ersten Hälfte des Jahrhunderts: hier im Norden war noch alles nach- zuholen. Die Erfahrungen der älteren Schulen hatte man zur Verfügung, man hatte frische Kräfte und freie Bahn. Die Schnel- ligkeit, mit der das neue System sich entfaltete, mit der der Ge- dankenprozeß sofort in Taten sich umsetzte, stellt das Werden des gotischen Stils in stärksten Gegensatz zu dem trägen Zeitmaß der früheren Jahrhunderte. In wenig mehr als 100 Jahren sind alle Stadien bis zur Vollendung durchlaufen. In dieser Zeit wurden sämtliche Kathedralkirchen Nordfrankreichs (deren Zahl etwa

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/39>, abgerufen am 25.04.2024.