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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
Die mittelalterliche Kunst ist der neuzeitlichen ebenso überlegen
in ihrer gewaltigen stilisierenden Potenz, wie unterwertig durch
ihre Naturfernheit. Einen Augenblick, auf ihrer Höhe im 13. Jahr-
hundert, schien es, als wollte sie auch nach dieser Seite zur Frei-
heit durchdringen; dann aber sank sie in Konventionalismus
zurück. Wer sie aufsuchen und schildern will, nicht in ihrer Be-
schränktheit, sondern ihrer schöpferischen Ursprünglichkeit, dort
wo sie wirksam blieb auf die nachfolgenden Zeiten bis herab auf
die unsrige, der hat in erster Linie die Baukunst und die mit dieser
unter gleichem Gesetz lebenden Kleinkünste ins Auge zu fassen.



Die Bauweise der germanischen Urzeit war reiner Holzbau;
ihr setzte sich der Kirchenbau als reiner Steinbau entgegen. Ein
stärkerer Gegensatz kann in der Welt architektonischer Möglich-
keiten nicht gedacht werden. Eine Vermischung trat nicht
ein; höchstens daß einige wenige aus der Behandlung des Holzes
sich ergebende Schmuckformen in den Steinbau sich einschlichen,
wozu wir aber z. B. das im romanischen Stil zu großer Verbreitung
gelangte Motiv des Würfelkapitells nicht rechnen möchten; auch
nicht die oft besprochenen Giebelchen als Ersatz für Bögen an
der Torhalle des Klosters Lorsch in einem sonst ganz antikisierenden
Formenensemble, da diese längst schon an altchristlichen Sarko-
phagen die gleiche Verwendung gefunden hatten. Der nationale
Holzbau wurde infolgedessen auf einer inferioren Stufe zurück-
gehalten: die Entwicklung der Baukunst als Kunst vollzog sich
allein im Steinbau. Für den autoritativen Charakter der Über-
lieferung ist das bezeichnend. Denn mit den konstruktiven Kennt-
nissen der Kirchenmänner, die jetzt als Bauleiter und Lehrer auf-
traten, war es schwach genug bestellt, und sie hatten große Mühe,
sich ihre Handwerker heranzuziehen. Immerhin, auch in der
rohesten Form hatte der Steinbau einen unersetzlichen Vorrang
in bezug auf Sicherheit und monumentale Würde. Der Fort-
schritt im Technischen nahm denn auch einen äußerst langsamen
Gang; erst mit dem Eintritt ins 12. Jahrhundert beschleunigte er

Die Kunst des Mittelalters
Die mittelalterliche Kunst ist der neuzeitlichen ebenso überlegen
in ihrer gewaltigen stilisierenden Potenz, wie unterwertig durch
ihre Naturfernheit. Einen Augenblick, auf ihrer Höhe im 13. Jahr-
hundert, schien es, als wollte sie auch nach dieser Seite zur Frei-
heit durchdringen; dann aber sank sie in Konventionalismus
zurück. Wer sie aufsuchen und schildern will, nicht in ihrer Be-
schränktheit, sondern ihrer schöpferischen Ursprünglichkeit, dort
wo sie wirksam blieb auf die nachfolgenden Zeiten bis herab auf
die unsrige, der hat in erster Linie die Baukunst und die mit dieser
unter gleichem Gesetz lebenden Kleinkünste ins Auge zu fassen.



Die Bauweise der germanischen Urzeit war reiner Holzbau;
ihr setzte sich der Kirchenbau als reiner Steinbau entgegen. Ein
stärkerer Gegensatz kann in der Welt architektonischer Möglich-
keiten nicht gedacht werden. Eine Vermischung trat nicht
ein; höchstens daß einige wenige aus der Behandlung des Holzes
sich ergebende Schmuckformen in den Steinbau sich einschlichen,
wozu wir aber z. B. das im romanischen Stil zu großer Verbreitung
gelangte Motiv des Würfelkapitells nicht rechnen möchten; auch
nicht die oft besprochenen Giebelchen als Ersatz für Bögen an
der Torhalle des Klosters Lorsch in einem sonst ganz antikisierenden
Formenensemble, da diese längst schon an altchristlichen Sarko-
phagen die gleiche Verwendung gefunden hatten. Der nationale
Holzbau wurde infolgedessen auf einer inferioren Stufe zurück-
gehalten: die Entwicklung der Baukunst als Kunst vollzog sich
allein im Steinbau. Für den autoritativen Charakter der Über-
lieferung ist das bezeichnend. Denn mit den konstruktiven Kennt-
nissen der Kirchenmänner, die jetzt als Bauleiter und Lehrer auf-
traten, war es schwach genug bestellt, und sie hatten große Mühe,
sich ihre Handwerker heranzuziehen. Immerhin, auch in der
rohesten Form hatte der Steinbau einen unersetzlichen Vorrang
in bezug auf Sicherheit und monumentale Würde. Der Fort-
schritt im Technischen nahm denn auch einen äußerst langsamen
Gang; erst mit dem Eintritt ins 12. Jahrhundert beschleunigte er

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[7/0021] Die Kunst des Mittelalters Die mittelalterliche Kunst ist der neuzeitlichen ebenso überlegen in ihrer gewaltigen stilisierenden Potenz, wie unterwertig durch ihre Naturfernheit. Einen Augenblick, auf ihrer Höhe im 13. Jahr- hundert, schien es, als wollte sie auch nach dieser Seite zur Frei- heit durchdringen; dann aber sank sie in Konventionalismus zurück. Wer sie aufsuchen und schildern will, nicht in ihrer Be- schränktheit, sondern ihrer schöpferischen Ursprünglichkeit, dort wo sie wirksam blieb auf die nachfolgenden Zeiten bis herab auf die unsrige, der hat in erster Linie die Baukunst und die mit dieser unter gleichem Gesetz lebenden Kleinkünste ins Auge zu fassen. Die Bauweise der germanischen Urzeit war reiner Holzbau; ihr setzte sich der Kirchenbau als reiner Steinbau entgegen. Ein stärkerer Gegensatz kann in der Welt architektonischer Möglich- keiten nicht gedacht werden. Eine Vermischung trat nicht ein; höchstens daß einige wenige aus der Behandlung des Holzes sich ergebende Schmuckformen in den Steinbau sich einschlichen, wozu wir aber z. B. das im romanischen Stil zu großer Verbreitung gelangte Motiv des Würfelkapitells nicht rechnen möchten; auch nicht die oft besprochenen Giebelchen als Ersatz für Bögen an der Torhalle des Klosters Lorsch in einem sonst ganz antikisierenden Formenensemble, da diese längst schon an altchristlichen Sarko- phagen die gleiche Verwendung gefunden hatten. Der nationale Holzbau wurde infolgedessen auf einer inferioren Stufe zurück- gehalten: die Entwicklung der Baukunst als Kunst vollzog sich allein im Steinbau. Für den autoritativen Charakter der Über- lieferung ist das bezeichnend. Denn mit den konstruktiven Kennt- nissen der Kirchenmänner, die jetzt als Bauleiter und Lehrer auf- traten, war es schwach genug bestellt, und sie hatten große Mühe, sich ihre Handwerker heranzuziehen. Immerhin, auch in der rohesten Form hatte der Steinbau einen unersetzlichen Vorrang in bezug auf Sicherheit und monumentale Würde. Der Fort- schritt im Technischen nahm denn auch einen äußerst langsamen Gang; erst mit dem Eintritt ins 12. Jahrhundert beschleunigte er

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/21>, abgerufen am 23.04.2024.