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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
Renaissance, wofür man sie öfters ausgegeben hat. Es ist nur in
sehr untergeordnetem Sinne wahr, daß sie nach rückwärts schaute;
in ihr wirkte noch ohne Unterbrechung der von der Antike kom-
mende Stoß fort, mit dem sich dann die neuen, bald als die stär-
keren sich erweisenden Kräfte verbanden.

Vermittlerin war, wie schon gesagt, die christliche Kirche.
Von ihr wurde die Rezeption verlangt, zugleich deren Maß vor-
geschrieben. Nur soviel, wie die Kirche von der antiken Kunst-
welt unter ihr rettendes Dach aufgenommen hatte, gewann Ein-
fluß auf die werdende mittelalterliche Kunst; was außerhalb
dieses Überlieferungsrahmens stand, war allerdings tot. Die
römischen Baudenkmäler, die in nicht geringer Zahl in den deut-
schen Rheinlanden, in größerer in verschiedenen Teilen Galliens
-- von Italien nicht zu reden -- sich erhalten hatten, sind kein
Faktor in der neuen Bewegung; nach wie vor sah der Barbar sie
mit blöden, verständnislosen Augen an; erst auf einer viel weiter
vorgerückten Stufe der mittelalterlichen Entwicklung haben sie
an einigen Orten etwas Renaissanceähnliches hervorgerufen. In
Betracht kommt für die Grundlegung nun: was brachte die christ-
liche Kirche von Kunstformen mit? Ein genaues Inventar davon
vermögen wir nach jetzigem Stande der Kenntnis nicht aufzu-
stellen. Sicher war der lateinische Okzident nicht die einzige
Quelle; jene große Transformation, in der die Antike im Orient
begriffen war, hatte frühzeitig, vor Karl dem Großen, ihre Wir-
kungen bis in die keltisch-germanische Welt, soweit sie christlich
wurde, hineinerstreckt. So ist denn nicht weniges von dem, was
uns als neu und unantik entgegentritt, gar nicht germanische,
sondern orientalische, dem Westen importierte Prägung. Die
Barbaren des Westens fühlten sich denen des Ostens in vielen
Punkten näher als beide der klassischen Antike.

So sehr die germanischen Völker zunächst als der bloß
empfangende, der anzutreibende und zu belehrende Teil erschienen,
lag doch bei ihnen die positive Kraft der Neubildung. Die irischen
Kelten, früher als die Germanen mit einer eigentümlich gefärbten
Kunst auftretend, erreichten sehr bald die Grenze ihrer Leistungs-
fähigkeit. In Frankreich zeigte sich anfänglich der Süden und

Die Kunst des Mittelalters
Renaissance, wofür man sie öfters ausgegeben hat. Es ist nur in
sehr untergeordnetem Sinne wahr, daß sie nach rückwärts schaute;
in ihr wirkte noch ohne Unterbrechung der von der Antike kom-
mende Stoß fort, mit dem sich dann die neuen, bald als die stär-
keren sich erweisenden Kräfte verbanden.

Vermittlerin war, wie schon gesagt, die christliche Kirche.
Von ihr wurde die Rezeption verlangt, zugleich deren Maß vor-
geschrieben. Nur soviel, wie die Kirche von der antiken Kunst-
welt unter ihr rettendes Dach aufgenommen hatte, gewann Ein-
fluß auf die werdende mittelalterliche Kunst; was außerhalb
dieses Überlieferungsrahmens stand, war allerdings tot. Die
römischen Baudenkmäler, die in nicht geringer Zahl in den deut-
schen Rheinlanden, in größerer in verschiedenen Teilen Galliens
— von Italien nicht zu reden — sich erhalten hatten, sind kein
Faktor in der neuen Bewegung; nach wie vor sah der Barbar sie
mit blöden, verständnislosen Augen an; erst auf einer viel weiter
vorgerückten Stufe der mittelalterlichen Entwicklung haben sie
an einigen Orten etwas Renaissanceähnliches hervorgerufen. In
Betracht kommt für die Grundlegung nun: was brachte die christ-
liche Kirche von Kunstformen mit? Ein genaues Inventar davon
vermögen wir nach jetzigem Stande der Kenntnis nicht aufzu-
stellen. Sicher war der lateinische Okzident nicht die einzige
Quelle; jene große Transformation, in der die Antike im Orient
begriffen war, hatte frühzeitig, vor Karl dem Großen, ihre Wir-
kungen bis in die keltisch-germanische Welt, soweit sie christlich
wurde, hineinerstreckt. So ist denn nicht weniges von dem, was
uns als neu und unantik entgegentritt, gar nicht germanische,
sondern orientalische, dem Westen importierte Prägung. Die
Barbaren des Westens fühlten sich denen des Ostens in vielen
Punkten näher als beide der klassischen Antike.

So sehr die germanischen Völker zunächst als der bloß
empfangende, der anzutreibende und zu belehrende Teil erschienen,
lag doch bei ihnen die positive Kraft der Neubildung. Die irischen
Kelten, früher als die Germanen mit einer eigentümlich gefärbten
Kunst auftretend, erreichten sehr bald die Grenze ihrer Leistungs-
fähigkeit. In Frankreich zeigte sich anfänglich der Süden und

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[5/0019] Die Kunst des Mittelalters Renaissance, wofür man sie öfters ausgegeben hat. Es ist nur in sehr untergeordnetem Sinne wahr, daß sie nach rückwärts schaute; in ihr wirkte noch ohne Unterbrechung der von der Antike kom- mende Stoß fort, mit dem sich dann die neuen, bald als die stär- keren sich erweisenden Kräfte verbanden. Vermittlerin war, wie schon gesagt, die christliche Kirche. Von ihr wurde die Rezeption verlangt, zugleich deren Maß vor- geschrieben. Nur soviel, wie die Kirche von der antiken Kunst- welt unter ihr rettendes Dach aufgenommen hatte, gewann Ein- fluß auf die werdende mittelalterliche Kunst; was außerhalb dieses Überlieferungsrahmens stand, war allerdings tot. Die römischen Baudenkmäler, die in nicht geringer Zahl in den deut- schen Rheinlanden, in größerer in verschiedenen Teilen Galliens — von Italien nicht zu reden — sich erhalten hatten, sind kein Faktor in der neuen Bewegung; nach wie vor sah der Barbar sie mit blöden, verständnislosen Augen an; erst auf einer viel weiter vorgerückten Stufe der mittelalterlichen Entwicklung haben sie an einigen Orten etwas Renaissanceähnliches hervorgerufen. In Betracht kommt für die Grundlegung nun: was brachte die christ- liche Kirche von Kunstformen mit? Ein genaues Inventar davon vermögen wir nach jetzigem Stande der Kenntnis nicht aufzu- stellen. Sicher war der lateinische Okzident nicht die einzige Quelle; jene große Transformation, in der die Antike im Orient begriffen war, hatte frühzeitig, vor Karl dem Großen, ihre Wir- kungen bis in die keltisch-germanische Welt, soweit sie christlich wurde, hineinerstreckt. So ist denn nicht weniges von dem, was uns als neu und unantik entgegentritt, gar nicht germanische, sondern orientalische, dem Westen importierte Prägung. Die Barbaren des Westens fühlten sich denen des Ostens in vielen Punkten näher als beide der klassischen Antike. So sehr die germanischen Völker zunächst als der bloß empfangende, der anzutreibende und zu belehrende Teil erschienen, lag doch bei ihnen die positive Kraft der Neubildung. Die irischen Kelten, früher als die Germanen mit einer eigentümlich gefärbten Kunst auftretend, erreichten sehr bald die Grenze ihrer Leistungs- fähigkeit. In Frankreich zeigte sich anfänglich der Süden und

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/19>, abgerufen am 19.04.2024.