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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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welche, irre ich nicht, Brugmann zuerst den Namen "Stamm-
abstufung" glücklich gefunden hat. Dass aus diesen Unter-
suchungen namentlich auch auf das griechische a, z. B. in
edrakon, elabon, neues Licht gefallen ist, habe ich schon in
meinem "Verbum" II2 S. 35 ff. rückhaltlos anerkannt. Da-
gegen muss ich mir freilich in Bezug auf die Systematik und
den eigentlichen Kernpunkt der neuen Lehren meine Zweifel
und zum Theil mein bestimmt abweichendes Urtheil vorbe-
halten. Es liegt mir indess hier fern, auf das sehr weitschich-
tige und viel erörterte Material ausführlicher einzugehn. Hier
betrachte ich vielmehr die Kritik der Methode und der für die
Wahrscheinlichkeit der neueren Aufstellungen vorgebrachten
Momente als meine Aufgabe. Ich begnüge mich übrigens,
einige Hauptpunkte und namentlich solche zur Sprache zu
bringen, welche mir mehr für die ältere, als für die jüngere
Ansicht zu sprechen scheinen.

Nach einem vielleicht manchem pedantisch scheinenden
Vorgehen, das schon aus dem Alterthum stammt *), frommt
es bei wissenschaftlichen Controversen stets zu fragen, "quid
pro re", "quid contra rem" dici possit. Dies ist in dieser
Frage nicht hinreichend geschehen. Der Charakter der ge-
sammten neueren Sprachwissenschaft ist, so scheint es mir,
zu vorherrschend ein constructiver, zu wenig ein dialektischer.
In dieser Frage namentlich war das Urtheil der meisten allzu
schnell fertig, so dass man nach kaum eröffnetem und wenig
ernsthaftem Kampf gegen die frühere Ansicht schon das Ge-
sammturtheil in einer Frage von grosser Tragweite für abge-
schlossen hielt und sich mehr um Einzelheiten, ja um die
Priorität des neuen Gedankens und um die Verdeutlichung
desselben durch Schriftzeichen stritt, als um die Sache selbst,
für welche ein veni, vidi, vici die Losung des Tages war.


*) Vgl. Varro de lingua latina V, 1. Die dritte Aufgabe, das "de
aliqua re" dicere, ist in Bezug auf den hier vorliegenden Gegenstand viel-
leicht am ehesten erfüllt.

welche, irre ich nicht, Brugmann zuerst den Namen „Stamm-
abstufung“ glücklich gefunden hat. Dass aus diesen Unter-
suchungen namentlich auch auf das griechische ᾰ, z. B. in
ἔδρακον, ἔλαβον, neues Licht gefallen ist, habe ich schon in
meinem „Verbum“ II2 S. 35 ff. rückhaltlos anerkannt. Da-
gegen muss ich mir freilich in Bezug auf die Systematik und
den eigentlichen Kernpunkt der neuen Lehren meine Zweifel
und zum Theil mein bestimmt abweichendes Urtheil vorbe-
halten. Es liegt mir indess hier fern, auf das sehr weitschich-
tige und viel erörterte Material ausführlicher einzugehn. Hier
betrachte ich vielmehr die Kritik der Methode und der für die
Wahrscheinlichkeit der neueren Aufstellungen vorgebrachten
Momente als meine Aufgabe. Ich begnüge mich übrigens,
einige Hauptpunkte und namentlich solche zur Sprache zu
bringen, welche mir mehr für die ältere, als für die jüngere
Ansicht zu sprechen scheinen.

Nach einem vielleicht manchem pedantisch scheinenden
Vorgehen, das schon aus dem Alterthum stammt *), frommt
es bei wissenschaftlichen Controversen stets zu fragen, „quid
pro re“, „quid contra rem“ dici possit. Dies ist in dieser
Frage nicht hinreichend geschehen. Der Charakter der ge-
sammten neueren Sprachwissenschaft ist, so scheint es mir,
zu vorherrschend ein constructiver, zu wenig ein dialektischer.
In dieser Frage namentlich war das Urtheil der meisten allzu
schnell fertig, so dass man nach kaum eröffnetem und wenig
ernsthaftem Kampf gegen die frühere Ansicht schon das Ge-
sammturtheil in einer Frage von grosser Tragweite für abge-
schlossen hielt und sich mehr um Einzelheiten, ja um die
Priorität des neuen Gedankens und um die Verdeutlichung
desselben durch Schriftzeichen stritt, als um die Sache selbst,
für welche ein veni, vidi, vici die Losung des Tages war.


*) Vgl. Varro de lingua latina V, 1. Die dritte Aufgabe, das „de
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leicht am ehesten erfüllt.
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[91/0099] welche, irre ich nicht, Brugmann zuerst den Namen „Stamm- abstufung“ glücklich gefunden hat. Dass aus diesen Unter- suchungen namentlich auch auf das griechische ᾰ, z. B. in ἔδρακον, ἔλαβον, neues Licht gefallen ist, habe ich schon in meinem „Verbum“ II2 S. 35 ff. rückhaltlos anerkannt. Da- gegen muss ich mir freilich in Bezug auf die Systematik und den eigentlichen Kernpunkt der neuen Lehren meine Zweifel und zum Theil mein bestimmt abweichendes Urtheil vorbe- halten. Es liegt mir indess hier fern, auf das sehr weitschich- tige und viel erörterte Material ausführlicher einzugehn. Hier betrachte ich vielmehr die Kritik der Methode und der für die Wahrscheinlichkeit der neueren Aufstellungen vorgebrachten Momente als meine Aufgabe. Ich begnüge mich übrigens, einige Hauptpunkte und namentlich solche zur Sprache zu bringen, welche mir mehr für die ältere, als für die jüngere Ansicht zu sprechen scheinen. Nach einem vielleicht manchem pedantisch scheinenden Vorgehen, das schon aus dem Alterthum stammt *), frommt es bei wissenschaftlichen Controversen stets zu fragen, „quid pro re“, „quid contra rem“ dici possit. Dies ist in dieser Frage nicht hinreichend geschehen. Der Charakter der ge- sammten neueren Sprachwissenschaft ist, so scheint es mir, zu vorherrschend ein constructiver, zu wenig ein dialektischer. In dieser Frage namentlich war das Urtheil der meisten allzu schnell fertig, so dass man nach kaum eröffnetem und wenig ernsthaftem Kampf gegen die frühere Ansicht schon das Ge- sammturtheil in einer Frage von grosser Tragweite für abge- schlossen hielt und sich mehr um Einzelheiten, ja um die Priorität des neuen Gedankens und um die Verdeutlichung desselben durch Schriftzeichen stritt, als um die Sache selbst, für welche ein veni, vidi, vici die Losung des Tages war. *) Vgl. Varro de lingua latina V, 1. Die dritte Aufgabe, das „de aliqua re“ dicere, ist in Bezug auf den hier vorliegenden Gegenstand viel- leicht am ehesten erfüllt.

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/99>, abgerufen am 16.04.2024.