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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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in einzelnen Dialekten (vgl. Baunack Stud. X, 91) sich sogar
in Bildungen wie arkhontois, tethnakotois, eteois (etosFM: griechisch, Jahr)
zeigt, von Formen der eben behandelten Art, in denen das o
alte Begründung hatte, seinen Ausgang nahm. Gab es in einer
Mundart Doppelformen wie khrematois und khrematessi, oua-
tois
und ouasin neben einander, wie leicht konnten ähnliche
Binionen von Stämmen gebildet werden, in denen die O-Bil-
dung keine historische Berechtigung hatte, bis sie schliesslich
als die bequemere sich im Kampfe der Bildungstriebe in
einigen Dialekten allein behauptete?

Schon oben S. 8 wiesen wir darauf hin, dass die neueren
Sprachforscher die Lautbewegung durchaus auf zwei Princi-
pien zurückzuführen suchen, auf lautgesetzliche Veränderungen,
die sie im Widerspruch mit vielen Thatsachen für unbedingt
ausnahmslos ausgeben, und auf Analogiebildungen. Wir such-
ten zu erweisen, dass die Annahme von schwankenden oder
sporadischen Lautübergängen unerlässlich und dass somit je-
denfalls ein drittes Princip zuzulassen sei. Wir werden aber
selbst damit nicht auskommen. Es mag hier darauf hinge-
wiesen werden, dass es noch eine ganze Reihe von Lautver-
änderungen gibt, welche weder auf Lautgesetzen, noch auf
rein lautlichen Neigungen, noch auf Analogiebildungen, son-
dern auf wiederum andern, bisher noch wenig oder gar nicht
berührten Trieben des Sprachlebens beruhen.

Wir können zunächst 1) Kürzungen erweisen, die von der
bezeichneten Art sind, und zwar:

a) Erscheinungen der Namenbildung. Es braucht hier
nur auf das epochemachende Buch von Fick, "die griechi-
schen Personennamen", hingewiesen zu werden. Es ist ur-
kundlich erwiesen, dass Zeuxis die kurze Form oder der Kurz-
name (Kosename) von Zeuxippos ist. Meister (Bezzenb. Beitr.
VI, 65) zeigt aus einer böotischen Inschrift, dass derselbe
Sclave in derselben Urkunde bald mit dem Vollnamen An-
dronikos
, bald mit dem Kurznamen Andrikos bezeichnet wird.

in einzelnen Dialekten (vgl. Baunack Stud. X, 91) sich sogar
in Bildungen wie ἀρχόντοις, τεθνακότοις, ἐτέοις (ἔτοςFM: griechisch, Jahr)
zeigt, von Formen der eben behandelten Art, in denen das ο
alte Begründung hatte, seinen Ausgang nahm. Gab es in einer
Mundart Doppelformen wie χρημάτοις und χρημάτεσσι, οὐά-
τοις
und οὐάσιν neben einander, wie leicht konnten ähnliche
Binionen von Stämmen gebildet werden, in denen die O-Bil-
dung keine historische Berechtigung hatte, bis sie schliesslich
als die bequemere sich im Kampfe der Bildungstriebe in
einigen Dialekten allein behauptete?

Schon oben S. 8 wiesen wir darauf hin, dass die neueren
Sprachforscher die Lautbewegung durchaus auf zwei Princi-
pien zurückzuführen suchen, auf lautgesetzliche Veränderungen,
die sie im Widerspruch mit vielen Thatsachen für unbedingt
ausnahmslos ausgeben, und auf Analogiebildungen. Wir such-
ten zu erweisen, dass die Annahme von schwankenden oder
sporadischen Lautübergängen unerlässlich und dass somit je-
denfalls ein drittes Princip zuzulassen sei. Wir werden aber
selbst damit nicht auskommen. Es mag hier darauf hinge-
wiesen werden, dass es noch eine ganze Reihe von Lautver-
änderungen gibt, welche weder auf Lautgesetzen, noch auf
rein lautlichen Neigungen, noch auf Analogiebildungen, son-
dern auf wiederum andern, bisher noch wenig oder gar nicht
berührten Trieben des Sprachlebens beruhen.

Wir können zunächst 1) Kürzungen erweisen, die von der
bezeichneten Art sind, und zwar:

a) Erscheinungen der Namenbildung. Es braucht hier
nur auf das epochemachende Buch von Fick, „die griechi-
schen Personennamen“, hingewiesen zu werden. Es ist ur-
kundlich erwiesen, dass Ζεῦξις die kurze Form oder der Kurz-
name (Kosename) von Ζεύξιππος ist. Meister (Bezzenb. Beitr.
VI, 65) zeigt aus einer böotischen Inschrift, dass derselbe
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δρώνικος
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[84/0092] in einzelnen Dialekten (vgl. Baunack Stud. X, 91) sich sogar in Bildungen wie ἀρχόντοις, τεθνακότοις, ἐτέοις (ἔτος, Jahr) zeigt, von Formen der eben behandelten Art, in denen das ο alte Begründung hatte, seinen Ausgang nahm. Gab es in einer Mundart Doppelformen wie χρημάτοις und χρημάτεσσι, οὐά- τοις und οὐάσιν neben einander, wie leicht konnten ähnliche Binionen von Stämmen gebildet werden, in denen die O-Bil- dung keine historische Berechtigung hatte, bis sie schliesslich als die bequemere sich im Kampfe der Bildungstriebe in einigen Dialekten allein behauptete? Schon oben S. 8 wiesen wir darauf hin, dass die neueren Sprachforscher die Lautbewegung durchaus auf zwei Princi- pien zurückzuführen suchen, auf lautgesetzliche Veränderungen, die sie im Widerspruch mit vielen Thatsachen für unbedingt ausnahmslos ausgeben, und auf Analogiebildungen. Wir such- ten zu erweisen, dass die Annahme von schwankenden oder sporadischen Lautübergängen unerlässlich und dass somit je- denfalls ein drittes Princip zuzulassen sei. Wir werden aber selbst damit nicht auskommen. Es mag hier darauf hinge- wiesen werden, dass es noch eine ganze Reihe von Lautver- änderungen gibt, welche weder auf Lautgesetzen, noch auf rein lautlichen Neigungen, noch auf Analogiebildungen, son- dern auf wiederum andern, bisher noch wenig oder gar nicht berührten Trieben des Sprachlebens beruhen. Wir können zunächst 1) Kürzungen erweisen, die von der bezeichneten Art sind, und zwar: a) Erscheinungen der Namenbildung. Es braucht hier nur auf das epochemachende Buch von Fick, „die griechi- schen Personennamen“, hingewiesen zu werden. Es ist ur- kundlich erwiesen, dass Ζεῦξις die kurze Form oder der Kurz- name (Kosename) von Ζεύξιππος ist. Meister (Bezzenb. Beitr. VI, 65) zeigt aus einer böotischen Inschrift, dass derselbe Sclave in derselben Urkunde bald mit dem Vollnamen Ἀν- δρώνικος, bald mit dem Kurznamen Ἀνδρικός bezeichnet wird.

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/92>, abgerufen am 25.04.2024.