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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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sellschaft der Wissenschaften 1870 1. Juli) es wahrscheinlich
zu machen gesucht, dass bei diesen Wörtern mehr als bei
andern sporadische Lautbewegungen mancherlei Art einge-
treten seien. Aus demselben Grunde ist es unleugbar, dass
bei den Zahlwörtern Analogiebildungen mehr als anderswo
sich geltend gemacht haben, vgl. Brugmann, Kuhn's Zeitschr.
XXIV, 66; Osthoff, Morphol. Unters. II, 92; Gustav Meyer
§ 395 ff.; Baunack, Zeitschr. XXV S. 225 ff. Dahin gehören
Formen wie duoisi bei Herodot neben duessi und dusin in an-
dern Dialekten, trioisi -- vielleicht im Anschluss an duoisi --
statt trisi bei Hipponax, beide nach der geläufigen O-Decli-
nation. Ebenso die Verschiebung des Spiritus, z. B. im hera-
kleischen okto, oktakatioi, ennea, beide vielleicht im An-
schluss an das in der Reihe der Zahlen nahe liegende epta.
Ein besonderer Anlass zu Anlehnungen im Anlaut liegt bei
den Zahlwörtern darin, dass sich beim Zählen besonders
häufig eine Reihe bildet, in welcher zwei oder mehr Zahl-
wörter sich unmittelbar berühren. Die Verführung zur Asso-
ciation ist also überall in besonderem Grade zur Hand. Und
die Forderung, welche wir oben für die Glaubwürdigkeit der
Analogiebehauptungen aufstellten, dass die so zu erklären-
den Formen einander nahe ständen, wird hier im höchsten
Grade erfüllt.

Wenn wir im Griechischen und Lateinischen andere Ge-
biete überblicken, in welchen die Analogiebildung den höch-
sten Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht, so stellt sich heraus,
dass diese besonders in wenig bedeutenden mittleren
und Endsilben
eintritt. Eine grosse Reihe von Fällen, die
wir bis jetzt besprochen haben, gehört in diese Kategorie.
Vocale und Diphthonge, welche an der Grenze zwischen dem
Stamme und den eigentlichen Flexionsendungen stehen, ver-
schieben sich z. B. in den oben erwähnten Plusquamperfect-
bildungen, in den ebenfalls erwähnten Dativen Plur. wie edesi,
polesi. Von ähnlicher Art ist das Eindringen des s in zahl-

sellschaft der Wissenschaften 1870 1. Juli) es wahrscheinlich
zu machen gesucht, dass bei diesen Wörtern mehr als bei
andern sporadische Lautbewegungen mancherlei Art einge-
treten seien. Aus demselben Grunde ist es unleugbar, dass
bei den Zahlwörtern Analogiebildungen mehr als anderswo
sich geltend gemacht haben, vgl. Brugmann, Kuhn's Zeitschr.
XXIV, 66; Osthoff, Morphol. Unters. II, 92; Gustav Meyer
§ 395 ff.; Baunack, Zeitschr. XXV S. 225 ff. Dahin gehören
Formen wie δυοῖσι bei Herodot neben δύεσσι und δυσίν in an-
dern Dialekten, τριοῖσι — vielleicht im Anschluss an δυοῖσι
statt τρισί bei Hipponax, beide nach der geläufigen Ο-Decli-
nation. Ebenso die Verschiebung des Spiritus, z. B. im hera-
kleischen ὁκτώ, ὁκτακατίοι, ἑννέα, beide vielleicht im An-
schluss an das in der Reihe der Zahlen nahe liegende ἑπτά.
Ein besonderer Anlass zu Anlehnungen im Anlaut liegt bei
den Zahlwörtern darin, dass sich beim Zählen besonders
häufig eine Reihe bildet, in welcher zwei oder mehr Zahl-
wörter sich unmittelbar berühren. Die Verführung zur Asso-
ciation ist also überall in besonderem Grade zur Hand. Und
die Forderung, welche wir oben für die Glaubwürdigkeit der
Analogiebehauptungen aufstellten, dass die so zu erklären-
den Formen einander nahe ständen, wird hier im höchsten
Grade erfüllt.

Wenn wir im Griechischen und Lateinischen andere Ge-
biete überblicken, in welchen die Analogiebildung den höch-
sten Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht, so stellt sich heraus,
dass diese besonders in wenig bedeutenden mittleren
und Endsilben
eintritt. Eine grosse Reihe von Fällen, die
wir bis jetzt besprochen haben, gehört in diese Kategorie.
Vocale und Diphthonge, welche an der Grenze zwischen dem
Stamme und den eigentlichen Flexionsendungen stehen, ver-
schieben sich z. B. in den oben erwähnten Plusquamperfect-
bildungen, in den ebenfalls erwähnten Dativen Plur. wie ἡδέσι,
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[77/0085] sellschaft der Wissenschaften 1870 1. Juli) es wahrscheinlich zu machen gesucht, dass bei diesen Wörtern mehr als bei andern sporadische Lautbewegungen mancherlei Art einge- treten seien. Aus demselben Grunde ist es unleugbar, dass bei den Zahlwörtern Analogiebildungen mehr als anderswo sich geltend gemacht haben, vgl. Brugmann, Kuhn's Zeitschr. XXIV, 66; Osthoff, Morphol. Unters. II, 92; Gustav Meyer § 395 ff.; Baunack, Zeitschr. XXV S. 225 ff. Dahin gehören Formen wie δυοῖσι bei Herodot neben δύεσσι und δυσίν in an- dern Dialekten, τριοῖσι — vielleicht im Anschluss an δυοῖσι — statt τρισί bei Hipponax, beide nach der geläufigen Ο-Decli- nation. Ebenso die Verschiebung des Spiritus, z. B. im hera- kleischen ὁκτώ, ὁκτακατίοι, ἑννέα, beide vielleicht im An- schluss an das in der Reihe der Zahlen nahe liegende ἑπτά. Ein besonderer Anlass zu Anlehnungen im Anlaut liegt bei den Zahlwörtern darin, dass sich beim Zählen besonders häufig eine Reihe bildet, in welcher zwei oder mehr Zahl- wörter sich unmittelbar berühren. Die Verführung zur Asso- ciation ist also überall in besonderem Grade zur Hand. Und die Forderung, welche wir oben für die Glaubwürdigkeit der Analogiebehauptungen aufstellten, dass die so zu erklären- den Formen einander nahe ständen, wird hier im höchsten Grade erfüllt. Wenn wir im Griechischen und Lateinischen andere Ge- biete überblicken, in welchen die Analogiebildung den höch- sten Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht, so stellt sich heraus, dass diese besonders in wenig bedeutenden mittleren und Endsilben eintritt. Eine grosse Reihe von Fällen, die wir bis jetzt besprochen haben, gehört in diese Kategorie. Vocale und Diphthonge, welche an der Grenze zwischen dem Stamme und den eigentlichen Flexionsendungen stehen, ver- schieben sich z. B. in den oben erwähnten Plusquamperfect- bildungen, in den ebenfalls erwähnten Dativen Plur. wie ἡδέσι, πόλεσι. Von ähnlicher Art ist das Eindringen des σ in zahl-

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/85>, abgerufen am 28.03.2024.