Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

beiden Casus sind offenbar antistoikhoi, wie denn nicht bloss
beim Neutrum, sondern auch bei den andern Geschlechtern
im Plural und Dual für beide Casus nur eine Form vorhanden
ist und auch im Singular die Nominativform massenhaft die
Vocativform mit vertritt. Allein es ist doch etwas ganz an-
deres, wenn man umgekehrt annimmt, dass die überhaupt viel
seltnere Vocativform die allgemein übliche und jedermann in
besonderem Masse vertraute Nominativbildung aus ihrer Stelle
verdrängt hätte. Mir scheint dies ungefähr so glaublich zu
sein, wie die Annahme, dass der Zwerg den Riesen über-
winde. Dennoch hat man in alten und neuen Zeiten so gelehrt.
Die homerischen, angeblich aeolischen Nominative Sing. auf
-a, z. B. ippota, fasste Aristarch als verschobene Vocative
auf, z. B. Aristonicus zu Il. B 101 in Bezug auf den Nominativ
Thuesta: e klgtike anti tes orthes. Für Aristarch war diese
Annahme nur ein Fall jenes skhema, das am kürzesten mit dem
Namen antiptosis bezeichnet wird. Man vergleiche darüber
Friedländer, Aristonicus S. 18 ff. Diese Auffassung war bei den
Alexandrinern schwerlich eine tief durchdachte, wie ja denn
das Fragen nach den Gründen und dem innern Zusammen-
hange der sprachlichen Erscheinungen auch den besten Gram-
matikern des Alterthums -- vielleicht mit einziger Ausnahme
des grübelnden Apollonius Dyskolos -- fern lag. In dem Be-
streben, die Thatsachen des homerischen Sprachgebrauchs im
Unterschied vom attischen zu fixiren, begnügten sich diese
mit einer kurzen, jedermann verständlichen Bezeichnung der
Thatsachen. Für den Attiker musste Thuesta ein Vocativ zu
sein scheinen, dass eben diese Form bei Homer nominativische
Geltung habe, wurde in jener Formel am kürzesten ausge-
drückt. Diese Formeln haben keinen andern Werth als die
bis in die neueste Zeit beliebte: homer. a für oder statt b,
ionisches e für dorisches an u. s. w. Solche Bezeichnungen
galten in der neueren Grammatik bis vor kurzem als beson-
ders deutliche Zeichen von der mechanischen und oberfläch-

beiden Casus sind offenbar ἀντίστοιχοι, wie denn nicht bloss
beim Neutrum, sondern auch bei den andern Geschlechtern
im Plural und Dual für beide Casus nur eine Form vorhanden
ist und auch im Singular die Nominativform massenhaft die
Vocativform mit vertritt. Allein es ist doch etwas ganz an-
deres, wenn man umgekehrt annimmt, dass die überhaupt viel
seltnere Vocativform die allgemein übliche und jedermann in
besonderem Masse vertraute Nominativbildung aus ihrer Stelle
verdrängt hätte. Mir scheint dies ungefähr so glaublich zu
sein, wie die Annahme, dass der Zwerg den Riesen über-
winde. Dennoch hat man in alten und neuen Zeiten so gelehrt.
Die homerischen, angeblich aeolischen Nominative Sing. auf
, z. B. ἱππότα, fasste Aristarch als verschobene Vocative
auf, z. B. Aristonicus zu Il. Β 101 in Bezug auf den Nominativ
Θυέστα: ἡ κλγτικὴ ἀντὶ τῆς ὀρθῆς. Für Aristarch war diese
Annahme nur ein Fall jenes σχῆμα, das am kürzesten mit dem
Namen ἀντίπτωσις bezeichnet wird. Man vergleiche darüber
Friedländer, Aristonicus S. 18 ff. Diese Auffassung war bei den
Alexandrinern schwerlich eine tief durchdachte, wie ja denn
das Fragen nach den Gründen und dem innern Zusammen-
hange der sprachlichen Erscheinungen auch den besten Gram-
matikern des Alterthums — vielleicht mit einziger Ausnahme
des grübelnden Apollonius Dyskolos — fern lag. In dem Be-
streben, die Thatsachen des homerischen Sprachgebrauchs im
Unterschied vom attischen zu fixiren, begnügten sich diese
mit einer kurzen, jedermann verständlichen Bezeichnung der
Thatsachen. Für den Attiker musste Θυέστα ein Vocativ zu
sein scheinen, dass eben diese Form bei Homer nominativische
Geltung habe, wurde in jener Formel am kürzesten ausge-
drückt. Diese Formeln haben keinen andern Werth als die
bis in die neueste Zeit beliebte: homer. a für oder statt b,
ionisches η für dorisches ᾱ u. s. w. Solche Bezeichnungen
galten in der neueren Grammatik bis vor kurzem als beson-
ders deutliche Zeichen von der mechanischen und oberfläch-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0083" n="75"/>
beiden Casus sind offenbar <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F00;&#x03BD;&#x03C4;&#x03AF;&#x03C3;&#x03C4;&#x03BF;&#x03B9;&#x03C7;&#x03BF;&#x03B9;</foreign></hi>, wie denn nicht bloss<lb/>
beim Neutrum, sondern auch bei den andern Geschlechtern<lb/>
im Plural und Dual für beide Casus nur eine Form vorhanden<lb/>
ist und auch im Singular die Nominativform massenhaft die<lb/>
Vocativform mit vertritt. Allein es ist doch etwas ganz an-<lb/>
deres, wenn man umgekehrt annimmt, dass die überhaupt viel<lb/>
seltnere Vocativform die allgemein übliche und jedermann in<lb/>
besonderem Masse vertraute Nominativbildung aus ihrer Stelle<lb/>
verdrängt hätte. Mir scheint dies ungefähr so glaublich zu<lb/>
sein, wie die Annahme, dass der Zwerg den Riesen über-<lb/>
winde. Dennoch hat man in alten und neuen Zeiten so gelehrt.<lb/>
Die homerischen, angeblich aeolischen Nominative Sing. auf<lb/><hi rendition="#i">-&#x03B1;</hi>, z. B. <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F31;&#x03C0;&#x03C0;&#x03CC;&#x03C4;&#x03B1;</foreign></hi>, fasste Aristarch als verschobene Vocative<lb/>
auf, z. B. Aristonicus zu Il. &#x0392; 101 in Bezug auf den Nominativ<lb/><hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x0398;&#x03C5;&#x03AD;&#x03C3;&#x03C4;&#x03B1;: &#x1F21; &#x03BA;&#x03BB;&#x03B3;&#x03C4;&#x03B9;&#x03BA;&#x1F74; &#x1F00;&#x03BD;&#x03C4;&#x1F76; &#x03C4;&#x1FC6;&#x03C2; &#x1F40;&#x03C1;&#x03B8;&#x1FC6;&#x03C2;</foreign></hi>. Für Aristarch war diese<lb/>
Annahme nur ein Fall jenes <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C3;&#x03C7;&#x1FC6;&#x03BC;&#x03B1;</foreign></hi>, das am kürzesten mit dem<lb/>
Namen <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F00;&#x03BD;&#x03C4;&#x03AF;&#x03C0;&#x03C4;&#x03C9;&#x03C3;&#x03B9;&#x03C2;</foreign></hi> bezeichnet wird. Man vergleiche darüber<lb/>
Friedländer, Aristonicus S. 18 ff. Diese Auffassung war bei den<lb/>
Alexandrinern schwerlich eine tief durchdachte, wie ja denn<lb/>
das Fragen nach den Gründen und dem innern Zusammen-<lb/>
hange der sprachlichen Erscheinungen auch den besten Gram-<lb/>
matikern des Alterthums &#x2014; vielleicht mit einziger Ausnahme<lb/>
des grübelnden Apollonius Dyskolos &#x2014; fern lag. In dem Be-<lb/>
streben, die Thatsachen des homerischen Sprachgebrauchs im<lb/>
Unterschied vom attischen zu fixiren, begnügten sich diese<lb/>
mit einer kurzen, jedermann verständlichen Bezeichnung der<lb/>
Thatsachen. Für den Attiker musste <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x0398;&#x03C5;&#x03AD;&#x03C3;&#x03C4;&#x03B1;</foreign></hi> ein Vocativ zu<lb/>
sein scheinen, dass eben diese Form bei Homer nominativische<lb/>
Geltung habe, wurde in jener Formel am kürzesten ausge-<lb/>
drückt. Diese Formeln haben keinen andern Werth als die<lb/>
bis in die neueste Zeit beliebte: homer. <hi rendition="#i">a</hi> für oder statt <hi rendition="#i">b</hi>,<lb/>
ionisches <hi rendition="#i">&#x03B7;</hi> für dorisches <hi rendition="#i">&#x03B1;&#x0304;</hi> u. s. w. Solche Bezeichnungen<lb/>
galten in der neueren Grammatik bis vor kurzem als beson-<lb/>
ders deutliche Zeichen von der mechanischen und oberfläch-<lb/><lb/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0083] beiden Casus sind offenbar ἀντίστοιχοι, wie denn nicht bloss beim Neutrum, sondern auch bei den andern Geschlechtern im Plural und Dual für beide Casus nur eine Form vorhanden ist und auch im Singular die Nominativform massenhaft die Vocativform mit vertritt. Allein es ist doch etwas ganz an- deres, wenn man umgekehrt annimmt, dass die überhaupt viel seltnere Vocativform die allgemein übliche und jedermann in besonderem Masse vertraute Nominativbildung aus ihrer Stelle verdrängt hätte. Mir scheint dies ungefähr so glaublich zu sein, wie die Annahme, dass der Zwerg den Riesen über- winde. Dennoch hat man in alten und neuen Zeiten so gelehrt. Die homerischen, angeblich aeolischen Nominative Sing. auf -α, z. B. ἱππότα, fasste Aristarch als verschobene Vocative auf, z. B. Aristonicus zu Il. Β 101 in Bezug auf den Nominativ Θυέστα: ἡ κλγτικὴ ἀντὶ τῆς ὀρθῆς. Für Aristarch war diese Annahme nur ein Fall jenes σχῆμα, das am kürzesten mit dem Namen ἀντίπτωσις bezeichnet wird. Man vergleiche darüber Friedländer, Aristonicus S. 18 ff. Diese Auffassung war bei den Alexandrinern schwerlich eine tief durchdachte, wie ja denn das Fragen nach den Gründen und dem innern Zusammen- hange der sprachlichen Erscheinungen auch den besten Gram- matikern des Alterthums — vielleicht mit einziger Ausnahme des grübelnden Apollonius Dyskolos — fern lag. In dem Be- streben, die Thatsachen des homerischen Sprachgebrauchs im Unterschied vom attischen zu fixiren, begnügten sich diese mit einer kurzen, jedermann verständlichen Bezeichnung der Thatsachen. Für den Attiker musste Θυέστα ein Vocativ zu sein scheinen, dass eben diese Form bei Homer nominativische Geltung habe, wurde in jener Formel am kürzesten ausge- drückt. Diese Formeln haben keinen andern Werth als die bis in die neueste Zeit beliebte: homer. a für oder statt b, ionisches η für dorisches ᾱ u. s. w. Solche Bezeichnungen galten in der neueren Grammatik bis vor kurzem als beson- ders deutliche Zeichen von der mechanischen und oberfläch-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/83
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/83>, abgerufen am 28.03.2024.