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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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tensität", von dem Grade der Bewusstheit und des Interesses,
mit dem eine Vorstellung aufgenommen wird, und fährt fort:
"Da jede Vorstellung mit der Zeit an Stärke einbüsst, so
kommt sehr viel darauf an, wie lange Zeit seit der ersten
Aufnahme verstrichen ist". Mit Weiterführung dieses, mich
dünkt schlagenden Gedankens, dürfen wir für frühe Zeiten
ein grösseres Festhalten des ursprünglich geschaffenen ver-
muthen, und es scheint mir gänzlich unglaublich, dass die
Sprachen schon in den frühesten Zeiten ihrer Feststellung, das
ist in jener Periode, die W. v. Humboldt die der Organisation
nennt, von den kaum geschaffenen und, wie wir vermuthen
dürfen, frisch und lebhaft im Gedächtniss festgehaltenen For-
men aus gleich wieder abgeirrt und ins Schwanken gerathen
seien, dass die Menschen, durch den Dämmerschein beliebiger
Aehnlichkeiten verführt, das eben hervorgebrachte Sprachgut
gleich massenhaft durch Angleichungen und Nachbildungen
verdunkelt und gleichsam verdorben hätten. Liegen nun auch
solche Zeiten in unendlicher Ferne, so dürfen wir doch wohl
nach dem Schlüsse der Analogie für ältere und regere Zeiten,
die uns durch eine Fülle wohl unterschiedener alter Formen
imponiren, voraussetzen, dass Abirrungen der erwähnten Art
bei ihnen überhaupt, wenn auch vielleicht nicht unerhört,
doch in keiner Weise zu erwarten sind.

Man hat in verschiedener Weise die Analogiebildungen
einzutheilen versucht. Der wichtigste Unterschied scheint mir
der von Brugmann Stud. IX, 309 f. gefundene, in innerliche
und äusserliche. Innerlich sind diejenigen, bei denen inner-
halb eines Systems von Formen eine Anähnlichung einer Form
an eine andere oder mehrere andere desselben Systems statt-
findet, z. B. ein Fall, den wir schon oben betrachteten: noch
zu Cicero's Zeit honons honoris, später honor honoris: Brug-
mann nennt diese Art der Angleichung Systemzwang. Von
Zwang aber kann hier nicht die Rede sein. Denn, wie wir
sahen, sehr oft bleibt unter denselben Bedingungen eine Form

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tensität“, von dem Grade der Bewusstheit und des Interesses,
mit dem eine Vorstellung aufgenommen wird, und fährt fort:
„Da jede Vorstellung mit der Zeit an Stärke einbüsst, so
kommt sehr viel darauf an, wie lange Zeit seit der ersten
Aufnahme verstrichen ist“. Mit Weiterführung dieses, mich
dünkt schlagenden Gedankens, dürfen wir für frühe Zeiten
ein grösseres Festhalten des ursprünglich geschaffenen ver-
muthen, und es scheint mir gänzlich unglaublich, dass die
Sprachen schon in den frühesten Zeiten ihrer Feststellung, das
ist in jener Periode, die W. v. Humboldt die der Organisation
nennt, von den kaum geschaffenen und, wie wir vermuthen
dürfen, frisch und lebhaft im Gedächtniss festgehaltenen For-
men aus gleich wieder abgeirrt und ins Schwanken gerathen
seien, dass die Menschen, durch den Dämmerschein beliebiger
Aehnlichkeiten verführt, das eben hervorgebrachte Sprachgut
gleich massenhaft durch Angleichungen und Nachbildungen
verdunkelt und gleichsam verdorben hätten. Liegen nun auch
solche Zeiten in unendlicher Ferne, so dürfen wir doch wohl
nach dem Schlüsse der Analogie für ältere und regere Zeiten,
die uns durch eine Fülle wohl unterschiedener alter Formen
imponiren, voraussetzen, dass Abirrungen der erwähnten Art
bei ihnen überhaupt, wenn auch vielleicht nicht unerhört,
doch in keiner Weise zu erwarten sind.

Man hat in verschiedener Weise die Analogiebildungen
einzutheilen versucht. Der wichtigste Unterschied scheint mir
der von Brugmann Stud. IX, 309 f. gefundene, in innerliche
und äusserliche. Innerlich sind diejenigen, bei denen inner-
halb eines Systems von Formen eine Anähnlichung einer Form
an eine andere oder mehrere andere desselben Systems statt-
findet, z. B. ein Fall, den wir schon oben betrachteten: noch
zu Cicero's Zeit honōs honoris, später honor honoris: Brug-
mann nennt diese Art der Angleichung Systemzwang. Von
Zwang aber kann hier nicht die Rede sein. Denn, wie wir
sahen, sehr oft bleibt unter denselben Bedingungen eine Form

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[67/0075] tensität“, von dem Grade der Bewusstheit und des Interesses, mit dem eine Vorstellung aufgenommen wird, und fährt fort: „Da jede Vorstellung mit der Zeit an Stärke einbüsst, so kommt sehr viel darauf an, wie lange Zeit seit der ersten Aufnahme verstrichen ist“. Mit Weiterführung dieses, mich dünkt schlagenden Gedankens, dürfen wir für frühe Zeiten ein grösseres Festhalten des ursprünglich geschaffenen ver- muthen, und es scheint mir gänzlich unglaublich, dass die Sprachen schon in den frühesten Zeiten ihrer Feststellung, das ist in jener Periode, die W. v. Humboldt die der Organisation nennt, von den kaum geschaffenen und, wie wir vermuthen dürfen, frisch und lebhaft im Gedächtniss festgehaltenen For- men aus gleich wieder abgeirrt und ins Schwanken gerathen seien, dass die Menschen, durch den Dämmerschein beliebiger Aehnlichkeiten verführt, das eben hervorgebrachte Sprachgut gleich massenhaft durch Angleichungen und Nachbildungen verdunkelt und gleichsam verdorben hätten. Liegen nun auch solche Zeiten in unendlicher Ferne, so dürfen wir doch wohl nach dem Schlüsse der Analogie für ältere und regere Zeiten, die uns durch eine Fülle wohl unterschiedener alter Formen imponiren, voraussetzen, dass Abirrungen der erwähnten Art bei ihnen überhaupt, wenn auch vielleicht nicht unerhört, doch in keiner Weise zu erwarten sind. Man hat in verschiedener Weise die Analogiebildungen einzutheilen versucht. Der wichtigste Unterschied scheint mir der von Brugmann Stud. IX, 309 f. gefundene, in innerliche und äusserliche. Innerlich sind diejenigen, bei denen inner- halb eines Systems von Formen eine Anähnlichung einer Form an eine andere oder mehrere andere desselben Systems statt- findet, z. B. ein Fall, den wir schon oben betrachteten: noch zu Cicero's Zeit honōs honoris, später honor honoris: Brug- mann nennt diese Art der Angleichung Systemzwang. Von Zwang aber kann hier nicht die Rede sein. Denn, wie wir sahen, sehr oft bleibt unter denselben Bedingungen eine Form 5 *

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/75>, abgerufen am 19.04.2024.