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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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"Die Entwicklung der Formen", sagt Joh. Schmidt a. a. O.
S. 311, "lässt sich nun Schritt für Schritt verfolgen. Zuerst
wurde die in tetakhthe, etetakhthe lautgesetzlich entstandene
Aspiration nur auf tetakhatai, etetakhato, die einzigen Formen
des Ind. Med., welche vocalisch anlautende Endung hatten,
übertragen". Diese Uebertragung ist aber, wenn man sie ge-
nauer erwägt, keineswegs eine so einfache Sache, wie es
scheinen möchte. Wenn Uebertragung oder Analogiebildung
auf einem unwillkürlichen Abirren des sprechenden zu einem
Sprachgebilde andrer Art beruht, so ist dieser seelische Vor-
gang ohne Zweifel dann mit grösserer Wahrscheinlichkeit
vorauszusetzen, wenn das Nachbild dem Vorbilde mögliehst
nahe kommt, weniger wahrscheinlich, wenn das Nachbild von
dem Vorbilde sich nicht unerheblich unterscheidet. Die frag-
liche Perfectform nun, z. B. tetakhthe, unterscheidet sich von
ihrem angeblichen Nachbild, z. B. tetakhatai, nicht unwesent-
lich. Statt der Consonantengruppe in der ersten Form be-
gegnet uns in der zweiten ein einfacher Consonant. Statt der
für einen grossen Theil der medialen Perfectformen gesetz-
lichen kurzvocalischen Stammformen, z. B. tetukhthe, haben wir
hier die langvocalische, z. B. teteukhatai.

Es fragt sich ferner, ob ihrem Gebrauche nach die 2. Pl.
geeignet ist, das Vorbild abzugeben für die 3. Pl. Im System
unsrer Schulgrammatik steht freilich die 2. Pl. unmittelbar vor
der 3. Pl. Aber jene homerischen oder gar vorhomerischen
Griechen, denen man zutraut, dass ihnen tetakhthe so sehr im
Ohre klang, dass sie das kh dieser Form, von dem th geson-
dert, gedankenlos in die 3. Pl. übertrugen, waren doch sicher-
lich keine A-B-C-Schützen, denen die Schulleier sich bis ins
reifere Alter erhielt. An sich hat die 3. Pl. gewiss mit kei-
ner andern Personalform weniger gemein als mit der 2. Pl.
Ferner: Die zweite Person Pluralis ist, das kann man wohl
ohne Bedenken sagen, von allen Personalformen die seltenste.
Denn dem Menschen ist viel öfter die Gelegenheit gegeben

„Die Entwicklung der Formen“, sagt Joh. Schmidt a. a. O.
S. 311, „lässt sich nun Schritt für Schritt verfolgen. Zuerst
wurde die in τέταχθε, ἐτέταχθε lautgesetzlich entstandene
Aspiration nur auf τετάχαται, ἐτετάχατο, die einzigen Formen
des Ind. Med., welche vocalisch anlautende Endung hatten,
übertragen“. Diese Uebertragung ist aber, wenn man sie ge-
nauer erwägt, keineswegs eine so einfache Sache, wie es
scheinen möchte. Wenn Uebertragung oder Analogiebildung
auf einem unwillkürlichen Abirren des sprechenden zu einem
Sprachgebilde andrer Art beruht, so ist dieser seelische Vor-
gang ohne Zweifel dann mit grösserer Wahrscheinlichkeit
vorauszusetzen, wenn das Nachbild dem Vorbilde mögliehst
nahe kommt, weniger wahrscheinlich, wenn das Nachbild von
dem Vorbilde sich nicht unerheblich unterscheidet. Die frag-
liche Perfectform nun, z. B. τέταχθε, unterscheidet sich von
ihrem angeblichen Nachbild, z. B. τετάχαται, nicht unwesent-
lich. Statt der Consonantengruppe in der ersten Form be-
gegnet uns in der zweiten ein einfacher Consonant. Statt der
für einen grossen Theil der medialen Perfectformen gesetz-
lichen kurzvocalischen Stammformen, z. B. τέτυχθε, haben wir
hier die langvocalische, z. B. τετεύχαται.

Es fragt sich ferner, ob ihrem Gebrauche nach die 2. Pl.
geeignet ist, das Vorbild abzugeben für die 3. Pl. Im System
unsrer Schulgrammatik steht freilich die 2. Pl. unmittelbar vor
der 3. Pl. Aber jene homerischen oder gar vorhomerischen
Griechen, denen man zutraut, dass ihnen τέταχθε so sehr im
Ohre klang, dass sie das χ dieser Form, von dem θ geson-
dert, gedankenlos in die 3. Pl. übertrugen, waren doch sicher-
lich keine A-B-C-Schützen, denen die Schulleier sich bis ins
reifere Alter erhielt. An sich hat die 3. Pl. gewiss mit kei-
ner andern Personalform weniger gemein als mit der 2. Pl.
Ferner: Die zweite Person Pluralis ist, das kann man wohl
ohne Bedenken sagen, von allen Personalformen die seltenste.
Denn dem Menschen ist viel öfter die Gelegenheit gegeben

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[62/0070] „Die Entwicklung der Formen“, sagt Joh. Schmidt a. a. O. S. 311, „lässt sich nun Schritt für Schritt verfolgen. Zuerst wurde die in τέταχθε, ἐτέταχθε lautgesetzlich entstandene Aspiration nur auf τετάχαται, ἐτετάχατο, die einzigen Formen des Ind. Med., welche vocalisch anlautende Endung hatten, übertragen“. Diese Uebertragung ist aber, wenn man sie ge- nauer erwägt, keineswegs eine so einfache Sache, wie es scheinen möchte. Wenn Uebertragung oder Analogiebildung auf einem unwillkürlichen Abirren des sprechenden zu einem Sprachgebilde andrer Art beruht, so ist dieser seelische Vor- gang ohne Zweifel dann mit grösserer Wahrscheinlichkeit vorauszusetzen, wenn das Nachbild dem Vorbilde mögliehst nahe kommt, weniger wahrscheinlich, wenn das Nachbild von dem Vorbilde sich nicht unerheblich unterscheidet. Die frag- liche Perfectform nun, z. B. τέταχθε, unterscheidet sich von ihrem angeblichen Nachbild, z. B. τετάχαται, nicht unwesent- lich. Statt der Consonantengruppe in der ersten Form be- gegnet uns in der zweiten ein einfacher Consonant. Statt der für einen grossen Theil der medialen Perfectformen gesetz- lichen kurzvocalischen Stammformen, z. B. τέτυχθε, haben wir hier die langvocalische, z. B. τετεύχαται. Es fragt sich ferner, ob ihrem Gebrauche nach die 2. Pl. geeignet ist, das Vorbild abzugeben für die 3. Pl. Im System unsrer Schulgrammatik steht freilich die 2. Pl. unmittelbar vor der 3. Pl. Aber jene homerischen oder gar vorhomerischen Griechen, denen man zutraut, dass ihnen τέταχθε so sehr im Ohre klang, dass sie das χ dieser Form, von dem θ geson- dert, gedankenlos in die 3. Pl. übertrugen, waren doch sicher- lich keine A-B-C-Schützen, denen die Schulleier sich bis ins reifere Alter erhielt. An sich hat die 3. Pl. gewiss mit kei- ner andern Personalform weniger gemein als mit der 2. Pl. Ferner: Die zweite Person Pluralis ist, das kann man wohl ohne Bedenken sagen, von allen Personalformen die seltenste. Denn dem Menschen ist viel öfter die Gelegenheit gegeben

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/70>, abgerufen am 19.04.2024.