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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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eines selbsterziehenden Princips haben in dem Sinne, dass
wir uns wechselseitig ermahnen, von anerkannten Lautgesetzen
nicht leichtsinnig Ausnahmen zuzulassen und für alle seltne-
ren Lautbewegungen in Uebereinstimmung mit Ascoli sorgfältig
nach einem warum? zu fragen, so wird darüber eine Meinungs-
verschiedenheit unter vernünftigen Gelehrten kaum stattfinden
können. Freilich ist das Streben der Wissenschaft auf dies
Ziel schon längst gerichtet gewesen. Denn zwischen "spora-
dischen Lautveränderungen" und "vereinzelten, vorläufig nicht
zu erklärenden" ist der Unterschied minimal. Ich sehe aber
nicht ein, warum man dann jener Vorschrift eine so apodik-
tische Form gibt, und von dem, was man höchstens in der
Zukunft durchführen zu können hofft, wie von einem Ge-
setze spricht, das von vornherein über jeden Zweifel erhaben
sei und für jede Combination eine unbedingt bindende Schranke
abgeben müsse.

Ehe wir von der Frage nach der unbedingten Regel-
mässigkeit alles Lautwandels scheiden, müssen wir noch etwas
genauer auf einzelnes eingehen. Es scheint mir ebenso noth-
wendig als fruchtbar, verschiedene Arten des Lautwandels zu
unterscheiden. Wir finden in allen indogermanischen Sprachen
gewisse durchgehende Consonantenveränderungen, an denen
man überhaupt den Begriff des Lautgesetzes erst erkannt hat.
Das bekannteste Beispiel dieser Lautbewegung ist die deutsche
Lautverschiebung. Aber mit der Zeit stellten sich für sämmt-
liche Sprachfamilien, wenn auch nicht in gleicher Mannich-
faltigkeit, für einen Theil der Explosivlaute ähnliche weit-
greifende Veränderungen heraus. Man kann auch solche all-
bekannte Gesetze, wie für das Griechische die Verwandlung
des vorvocalischen s in den spiritus asper und ähnliches
hierher stellen. Ascoli bedient sich für diese Art der Laut-
bewegung des Ausdrucks tralignamento. Wir könnten eigent-
lich das zunächst für das Deutsche gefundene, treffende Wort
"Lautverschiebung" auf alle Sprachen anwenden, oder dafür

eines selbsterziehenden Princips haben in dem Sinne, dass
wir uns wechselseitig ermahnen, von anerkannten Lautgesetzen
nicht leichtsinnig Ausnahmen zuzulassen und für alle seltne-
ren Lautbewegungen in Uebereinstimmung mit Ascoli sorgfältig
nach einem warum? zu fragen, so wird darüber eine Meinungs-
verschiedenheit unter vernünftigen Gelehrten kaum stattfinden
können. Freilich ist das Streben der Wissenschaft auf dies
Ziel schon längst gerichtet gewesen. Denn zwischen „spora-
dischen Lautveränderungen“ und „vereinzelten, vorläufig nicht
zu erklärenden" ist der Unterschied minimal. Ich sehe aber
nicht ein, warum man dann jener Vorschrift eine so apodik-
tische Form gibt, und von dem, was man höchstens in der
Zukunft durchführen zu können hofft, wie von einem Ge-
setze spricht, das von vornherein über jeden Zweifel erhaben
sei und für jede Combination eine unbedingt bindende Schranke
abgeben müsse.

Ehe wir von der Frage nach der unbedingten Regel-
mässigkeit alles Lautwandels scheiden, müssen wir noch etwas
genauer auf einzelnes eingehen. Es scheint mir ebenso noth-
wendig als fruchtbar, verschiedene Arten des Lautwandels zu
unterscheiden. Wir finden in allen indogermanischen Sprachen
gewisse durchgehende Consonantenveränderungen, an denen
man überhaupt den Begriff des Lautgesetzes erst erkannt hat.
Das bekannteste Beispiel dieser Lautbewegung ist die deutsche
Lautverschiebung. Aber mit der Zeit stellten sich für sämmt-
liche Sprachfamilien, wenn auch nicht in gleicher Mannich-
faltigkeit, für einen Theil der Explosivlaute ähnliche weit-
greifende Veränderungen heraus. Man kann auch solche all-
bekannte Gesetze, wie für das Griechische die Verwandlung
des vorvocalischen σ in den spiritus asper und ähnliches
hierher stellen. Ascoli bedient sich für diese Art der Laut-
bewegung des Ausdrucks tralignamento. Wir könnten eigent-
lich das zunächst für das Deutsche gefundene, treffende Wort
„Lautverschiebung“ auf alle Sprachen anwenden, oder dafür

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[22/0030] eines selbsterziehenden Princips haben in dem Sinne, dass wir uns wechselseitig ermahnen, von anerkannten Lautgesetzen nicht leichtsinnig Ausnahmen zuzulassen und für alle seltne- ren Lautbewegungen in Uebereinstimmung mit Ascoli sorgfältig nach einem warum? zu fragen, so wird darüber eine Meinungs- verschiedenheit unter vernünftigen Gelehrten kaum stattfinden können. Freilich ist das Streben der Wissenschaft auf dies Ziel schon längst gerichtet gewesen. Denn zwischen „spora- dischen Lautveränderungen“ und „vereinzelten, vorläufig nicht zu erklärenden" ist der Unterschied minimal. Ich sehe aber nicht ein, warum man dann jener Vorschrift eine so apodik- tische Form gibt, und von dem, was man höchstens in der Zukunft durchführen zu können hofft, wie von einem Ge- setze spricht, das von vornherein über jeden Zweifel erhaben sei und für jede Combination eine unbedingt bindende Schranke abgeben müsse. Ehe wir von der Frage nach der unbedingten Regel- mässigkeit alles Lautwandels scheiden, müssen wir noch etwas genauer auf einzelnes eingehen. Es scheint mir ebenso noth- wendig als fruchtbar, verschiedene Arten des Lautwandels zu unterscheiden. Wir finden in allen indogermanischen Sprachen gewisse durchgehende Consonantenveränderungen, an denen man überhaupt den Begriff des Lautgesetzes erst erkannt hat. Das bekannteste Beispiel dieser Lautbewegung ist die deutsche Lautverschiebung. Aber mit der Zeit stellten sich für sämmt- liche Sprachfamilien, wenn auch nicht in gleicher Mannich- faltigkeit, für einen Theil der Explosivlaute ähnliche weit- greifende Veränderungen heraus. Man kann auch solche all- bekannte Gesetze, wie für das Griechische die Verwandlung des vorvocalischen σ in den spiritus asper und ähnliches hierher stellen. Ascoli bedient sich für diese Art der Laut- bewegung des Ausdrucks tralignamento. Wir könnten eigent- lich das zunächst für das Deutsche gefundene, treffende Wort „Lautverschiebung“ auf alle Sprachen anwenden, oder dafür

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/30>, abgerufen am 24.04.2024.