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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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leichte Modificationen hinauslaufen, wie die, dass t vor v sich
assibilirte, oder dass ein ursprachliches, aller Wahrschein-
lichkeit nach unbetontes a sich zu i schwächte, so kann man
darin eine besondere Kühnheit nicht erkennen. Brugmann
erklärt mit andern Forschern die früher allgemein verbreitete
Annahme, phero habe, verglichen mit dem sanskr. bharan-mi,
die Endsilbe eingebüsst, für "unmöglich". Aber wenn wir
von den lautlichen Gewohnheiten der Ursprache überhaupt
wenig wissen, so folgt daraus doch nicht, dass eine solche
Kürzung nicht möglich war. Das Nichtwissen von solchen
Vorgängen gestattet ebenso wenig ein entschiedenes nein, wie
ein ja.

Allen Zweifeln über den Ursprung der Personalendungen
gegenüber bleibt das Hauptargument das auch von Delbrück
2. Aufl. S. 71 anerkannte. Es kann unmöglich Zufall sein,
dass die Laute m und t für die erste und dritte Person des
Verbums mit denselben Lauten der Pronominalformen in der
Bedeutung übereinstimmen. Zwar hat neuerdings Sayce in
seiner Abhandlung "Person-endings of the European verb"
(Internat. Ztschr. I, 222 ff.) den feierlichen Ausspruch gethan:
"The old agglutination theory of Bopp must be considered as
dead". Wir haben hier neben dem Guna (oben S. 121) das
zweite Todesurtheil, das gegen grundlegende Gedanken Bopp's
ausgesprochen ist. Aber glücklicher Weise ist diesem Urtheil
schon mehrfach widersprochen worden, so von Merlo in sei-
ner Schrift "in difesa della teoria della agglutinazione appunti
critici" Torino 1884, von Scherer Anzeiger X (1884) S. 379
und von Delbrück, der freilich zu meinem Bedauern 2. Aufl.
S. 141 weniger entschieden als in der ersten Auflage und an
der früher erwähnten Stelle der zweiten sich ausspricht. Der
Umstand, dass augenblicklich Untersuchungen dieser Art die
aura popularis nicht für sich haben, kann nach meiner An-
sicht keinen Grund abgeben, die auf wohl überlegten Argu-
menten gegründete ältere Lehre mit jener Adaptationstheorie

leichte Modificationen hinauslaufen, wie die, dass t vor v sich
assibilirte, oder dass ein ursprachliches, aller Wahrschein-
lichkeit nach unbetontes a sich zu i schwächte, so kann man
darin eine besondere Kühnheit nicht erkennen. Brugmann
erklärt mit andern Forschern die früher allgemein verbreitete
Annahme, φέρω habe, verglichen mit dem sanskr. bhárā-mi,
die Endsilbe eingebüsst, für „unmöglich“. Aber wenn wir
von den lautlichen Gewohnheiten der Ursprache überhaupt
wenig wissen, so folgt daraus doch nicht, dass eine solche
Kürzung nicht möglich war. Das Nichtwissen von solchen
Vorgängen gestattet ebenso wenig ein entschiedenes nein, wie
ein ja.

Allen Zweifeln über den Ursprung der Personalendungen
gegenüber bleibt das Hauptargument das auch von Delbrück
2. Aufl. S. 71 anerkannte. Es kann unmöglich Zufall sein,
dass die Laute m und t für die erste und dritte Person des
Verbums mit denselben Lauten der Pronominalformen in der
Bedeutung übereinstimmen. Zwar hat neuerdings Sayce in
seiner Abhandlung „Person-endings of the European verb“
(Internat. Ztschr. I, 222 ff.) den feierlichen Ausspruch gethan:
„The old agglutination theory of Bopp must be considered as
dead“. Wir haben hier neben dem Guna (oben S. 121) das
zweite Todesurtheil, das gegen grundlegende Gedanken Bopp's
ausgesprochen ist. Aber glücklicher Weise ist diesem Urtheil
schon mehrfach widersprochen worden, so von Merlo in sei-
ner Schrift „in difesa della teoria della agglutinazione appunti
critici“ Torino 1884, von Scherer Anzeiger X (1884) S. 379
und von Delbrück, der freilich zu meinem Bedauern 2. Aufl.
S. 141 weniger entschieden als in der ersten Auflage und an
der früher erwähnten Stelle der zweiten sich ausspricht. Der
Umstand, dass augenblicklich Untersuchungen dieser Art die
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sicht keinen Grund abgeben, die auf wohl überlegten Argu-
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[148/0156] leichte Modificationen hinauslaufen, wie die, dass t vor v sich assibilirte, oder dass ein ursprachliches, aller Wahrschein- lichkeit nach unbetontes a sich zu i schwächte, so kann man darin eine besondere Kühnheit nicht erkennen. Brugmann erklärt mit andern Forschern die früher allgemein verbreitete Annahme, φέρω habe, verglichen mit dem sanskr. bhárā-mi, die Endsilbe eingebüsst, für „unmöglich“. Aber wenn wir von den lautlichen Gewohnheiten der Ursprache überhaupt wenig wissen, so folgt daraus doch nicht, dass eine solche Kürzung nicht möglich war. Das Nichtwissen von solchen Vorgängen gestattet ebenso wenig ein entschiedenes nein, wie ein ja. Allen Zweifeln über den Ursprung der Personalendungen gegenüber bleibt das Hauptargument das auch von Delbrück 2. Aufl. S. 71 anerkannte. Es kann unmöglich Zufall sein, dass die Laute m und t für die erste und dritte Person des Verbums mit denselben Lauten der Pronominalformen in der Bedeutung übereinstimmen. Zwar hat neuerdings Sayce in seiner Abhandlung „Person-endings of the European verb“ (Internat. Ztschr. I, 222 ff.) den feierlichen Ausspruch gethan: „The old agglutination theory of Bopp must be considered as dead“. Wir haben hier neben dem Guna (oben S. 121) das zweite Todesurtheil, das gegen grundlegende Gedanken Bopp's ausgesprochen ist. Aber glücklicher Weise ist diesem Urtheil schon mehrfach widersprochen worden, so von Merlo in sei- ner Schrift „in difesa della teoria della agglutinazione appunti critici“ Torino 1884, von Scherer Anzeiger X (1884) S. 379 und von Delbrück, der freilich zu meinem Bedauern 2. Aufl. S. 141 weniger entschieden als in der ersten Auflage und an der früher erwähnten Stelle der zweiten sich ausspricht. Der Umstand, dass augenblicklich Untersuchungen dieser Art die aura popularis nicht für sich haben, kann nach meiner An- sicht keinen Grund abgeben, die auf wohl überlegten Argu- menten gegründete ältere Lehre mit jener Adaptationstheorie

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/156>, abgerufen am 25.04.2024.