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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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Die nominalen Composita werfen aber auch Licht auf
Verbalformen, in denen ebenfalls bis vor kurzem ohne Wider-
spruch Composita erkannt wurden. Jetzt behauptet man das
Gegentheil. Aber wer mit Bopp und Schleicher in einem
Aorist wie sanskr. adiksham = edeixa eine Vereinigung der
Verbalwurzel dik (dik) mit einer Form des Verbum substan-
tivum erblickt, verstösst nicht im allermindesten gegen die
von uns zugestandene Thatsache, dass Wurzeln und Stämme
in nachursprachlicher Zeit kein gesondertes Dasein führen.
Freilich geht dieser Typus auf eine Zeit zurück, da es einen
Stamm dik gab, welcher auch nominale Bedeutung haben
konnte und ein Casuszeichen ebenso wenig annahm, wie etwa
der Stamm sanskr. kara im ersten Gliede eines Compositums.
In beiden Fällen war der Typus ein ursprachlicher. Wurzeln
ohne weitere Anfügungen in der Bedeutung eines activen Parti-
cips kommen ja im Sanskrit noch so häufig vor (z. B. dharma-
vid
, recht-wissend), dass bei den Indern von solcher Anwen-
dung der Wurzeln sich sogar vielleicht ein Bewusstsein er-
halten haben wird. Die Annahme also, dass eine solche Wurzel
in nominaler Bedeutung sich mit einer Form des Verbum sub-
stantivum verbunden haben sollte, ist nichts weniger als wider-
sinnig.

Ein Compositum wie a-dik-sha-m erkläre ich mit Bopp
so, dass ich die Wurzel im Sinne des activen Participiums
dicens (genauer monstrans), das ganze also als tum dicens eram
fasse. Die Form hat dann ihren Nachfolger in der Futurbil-
dung dantan-smi (dator sum), die wegen der mit einer stamm-
bildenden Endung versehenen Form einer jüngeren Periode
angehört. Scherer Zur Gesch. der d. Spr.2 S. 475 fasst die
Wurzel als abstractes Substantiv, das als inneres Object vom
Verbum substantivum in ähnlicher Weise, aber ohne Casus-
endung abhängt, wie im Sanskrit khonrajanm onsa, gleichsam
*furtum fui, ein abstractes Substantiv mit Accusativendung
von diesem Verbum regiert wird. Beide Erklärungen sind

Die nominalen Composita werfen aber auch Licht auf
Verbalformen, in denen ebenfalls bis vor kurzem ohne Wider-
spruch Composita erkannt wurden. Jetzt behauptet man das
Gegentheil. Aber wer mit Bopp und Schleicher in einem
Aorist wie sanskr. adiksham = ἔδειξα eine Vereinigung der
Verbalwurzel dik̜ (δικ) mit einer Form des Verbum substan-
tivum erblickt, verstösst nicht im allermindesten gegen die
von uns zugestandene Thatsache, dass Wurzeln und Stämme
in nachursprachlicher Zeit kein gesondertes Dasein führen.
Freilich geht dieser Typus auf eine Zeit zurück, da es einen
Stamm dik̜ gab, welcher auch nominale Bedeutung haben
konnte und ein Casuszeichen ebenso wenig annahm, wie etwa
der Stamm sanskr. kara im ersten Gliede eines Compositums.
In beiden Fällen war der Typus ein ursprachlicher. Wurzeln
ohne weitere Anfügungen in der Bedeutung eines activen Parti-
cips kommen ja im Sanskrit noch so häufig vor (z. B. dharma-
vid
, recht-wissend), dass bei den Indern von solcher Anwen-
dung der Wurzeln sich sogar vielleicht ein Bewusstsein er-
halten haben wird. Die Annahme also, dass eine solche Wurzel
in nominaler Bedeutung sich mit einer Form des Verbum sub-
stantivum verbunden haben sollte, ist nichts weniger als wider-
sinnig.

Ein Compositum wie a-dik-sha-m erkläre ich mit Bopp
so, dass ich die Wurzel im Sinne des activen Participiums
dicens (genauer monstrans), das ganze also als tum dicens eram
fasse. Die Form hat dann ihren Nachfolger in der Futurbil-
dung dātā-smi (dator sum), die wegen der mit einer stamm-
bildenden Endung versehenen Form einer jüngeren Periode
angehört. Scherer Zur Gesch. der d. Spr.2 S. 475 fasst die
Wurzel als abstractes Substantiv, das als inneres Object vom
Verbum substantivum in ähnlicher Weise, aber ohne Casus-
endung abhängt, wie im Sanskrit k̍hōrajām ōsa, gleichsam
*furtum fui, ein abstractes Substantiv mit Accusativendung
von diesem Verbum regiert wird. Beide Erklärungen sind

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[139/0147] Die nominalen Composita werfen aber auch Licht auf Verbalformen, in denen ebenfalls bis vor kurzem ohne Wider- spruch Composita erkannt wurden. Jetzt behauptet man das Gegentheil. Aber wer mit Bopp und Schleicher in einem Aorist wie sanskr. adiksham = ἔδειξα eine Vereinigung der Verbalwurzel dik̜ (δικ) mit einer Form des Verbum substan- tivum erblickt, verstösst nicht im allermindesten gegen die von uns zugestandene Thatsache, dass Wurzeln und Stämme in nachursprachlicher Zeit kein gesondertes Dasein führen. Freilich geht dieser Typus auf eine Zeit zurück, da es einen Stamm dik̜ gab, welcher auch nominale Bedeutung haben konnte und ein Casuszeichen ebenso wenig annahm, wie etwa der Stamm sanskr. kara im ersten Gliede eines Compositums. In beiden Fällen war der Typus ein ursprachlicher. Wurzeln ohne weitere Anfügungen in der Bedeutung eines activen Parti- cips kommen ja im Sanskrit noch so häufig vor (z. B. dharma- vid, recht-wissend), dass bei den Indern von solcher Anwen- dung der Wurzeln sich sogar vielleicht ein Bewusstsein er- halten haben wird. Die Annahme also, dass eine solche Wurzel in nominaler Bedeutung sich mit einer Form des Verbum sub- stantivum verbunden haben sollte, ist nichts weniger als wider- sinnig. Ein Compositum wie a-dik-sha-m erkläre ich mit Bopp so, dass ich die Wurzel im Sinne des activen Participiums dicens (genauer monstrans), das ganze also als tum dicens eram fasse. Die Form hat dann ihren Nachfolger in der Futurbil- dung dātā-smi (dator sum), die wegen der mit einer stamm- bildenden Endung versehenen Form einer jüngeren Periode angehört. Scherer Zur Gesch. der d. Spr.2 S. 475 fasst die Wurzel als abstractes Substantiv, das als inneres Object vom Verbum substantivum in ähnlicher Weise, aber ohne Casus- endung abhängt, wie im Sanskrit k̍hōrajām ōsa, gleichsam *furtum fui, ein abstractes Substantiv mit Accusativendung von diesem Verbum regiert wird. Beide Erklärungen sind

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/147>, abgerufen am 23.04.2024.