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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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begreifliche Form ist. Denn sie enthält den nackten Stamm
des Nomens. Ebenso steht es mit dem Accusativ Nomin. Sing,
eines grossen Theiles der Neutra, und ähnlich mit der vor-
herrschenden 2. Pers. Sing, des Imperativs thematischer Verba.
Man wird also zugeben müssen, dass das alte in späteren
Sprachperioden ebenso fortleben kann wie Sitten und Ge-
bräuche eines Volkes oder Reste derselben, die nur als Pro-
ducte früherer Culturperioden verständlich sind, bis in späte
Zeiten sich erhalten.

Wenn wir nun fragen, in welcher Weise in späteren Zeiten
zusammengesetzte, abgeleitete und flectirte Wörter und Wort-
formen wirklich entstehen, so trage ich kein Bedenken, dem
Ausspruche Delbrück's im allgemeinen beizustimmen, ohne
dass ich mir bewusst bin, mich jemals damit in Widerspruch
befunden zu haben. Delbrück sagt a. a. O.: "Da Neubildungen
in einer fertigen Sprache nicht mehr durch Zusammensetzung
der constituirenden Elemente gebildet werden können, falls
diese Elemente nicht selbst fertige Wörter sind, so können
alle übrigen Neubildungen nur auf dem Wege der Analogiebil-
dung zu Stande kommen. Neubildungen sind Nachbildungen".
Das durchgehende Gesetz, dass das erste Glied eines nomi-
nalen Compositums und dass der Stamm zahlloser abgeleiteter
Nominalformen den flexionslosen Stamm *) enthält oder jeden-
falls von diesem ausgegangen ist, erklärt sich einfach auf
diese Weise. Um uns die Sache durch einige Beispiele klar

*) Scherer sagt bei der Besprechung meiner "Chronologie" in voller
Uebereinstimmung hiermit Z. Gesch. d. d. Sprache2 677: "Die Composita
sind die älteste sprachliche Urkunde die wir besitzen". Auch dem stimme
ich völlig bei, was S. 476 desselben Buches bemerkt wird: "Die Zusammen-
setzung als sprachliches Mittel beruht darauf, dass in der Epoche der
blossen Juxtaposition materieller Wörter feste, stammhafte Verbindungen
von solcher Macht und Bedeutung entstanden, dass sie beibehalten wur-
den, als jene Periode ihr Ende nahm, und dergestalt innerhalb einer Sprach-
entwicklung, die von ganz andern Mächten bewegt wird, das Vorbild und
Muster für neue Formationen abgaben".

begreifliche Form ist. Denn sie enthält den nackten Stamm
des Nomens. Ebenso steht es mit dem Accusativ Nomin. Sing,
eines grossen Theiles der Neutra, und ähnlich mit der vor-
herrschenden 2. Pers. Sing, des Imperativs thematischer Verba.
Man wird also zugeben müssen, dass das alte in späteren
Sprachperioden ebenso fortleben kann wie Sitten und Ge-
bräuche eines Volkes oder Reste derselben, die nur als Pro-
ducte früherer Culturperioden verständlich sind, bis in späte
Zeiten sich erhalten.

Wenn wir nun fragen, in welcher Weise in späteren Zeiten
zusammengesetzte, abgeleitete und flectirte Wörter und Wort-
formen wirklich entstehen, so trage ich kein Bedenken, dem
Ausspruche Delbrück's im allgemeinen beizustimmen, ohne
dass ich mir bewusst bin, mich jemals damit in Widerspruch
befunden zu haben. Delbrück sagt a. a. O.: „Da Neubildungen
in einer fertigen Sprache nicht mehr durch Zusammensetzung
der constituirenden Elemente gebildet werden können, falls
diese Elemente nicht selbst fertige Wörter sind, so können
alle übrigen Neubildungen nur auf dem Wege der Analogiebil-
dung zu Stande kommen. Neubildungen sind Nachbildungen“.
Das durchgehende Gesetz, dass das erste Glied eines nomi-
nalen Compositums und dass der Stamm zahlloser abgeleiteter
Nominalformen den flexionslosen Stamm *) enthält oder jeden-
falls von diesem ausgegangen ist, erklärt sich einfach auf
diese Weise. Um uns die Sache durch einige Beispiele klar

*) Scherer sagt bei der Besprechung meiner „Chronologie“ in voller
Uebereinstimmung hiermit Z. Gesch. d. d. Sprache2 677: „Die Composita
sind die älteste sprachliche Urkunde die wir besitzen“. Auch dem stimme
ich völlig bei, was S. 476 desselben Buches bemerkt wird: „Die Zusammen-
setzung als sprachliches Mittel beruht darauf, dass in der Epoche der
blossen Juxtaposition materieller Wörter feste, stammhafte Verbindungen
von solcher Macht und Bedeutung entstanden, dass sie beibehalten wur-
den, als jene Periode ihr Ende nahm, und dergestalt innerhalb einer Sprach-
entwicklung, die von ganz andern Mächten bewegt wird, das Vorbild und
Muster für neue Formationen abgaben“.
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[135/0143] begreifliche Form ist. Denn sie enthält den nackten Stamm des Nomens. Ebenso steht es mit dem Accusativ Nomin. Sing, eines grossen Theiles der Neutra, und ähnlich mit der vor- herrschenden 2. Pers. Sing, des Imperativs thematischer Verba. Man wird also zugeben müssen, dass das alte in späteren Sprachperioden ebenso fortleben kann wie Sitten und Ge- bräuche eines Volkes oder Reste derselben, die nur als Pro- ducte früherer Culturperioden verständlich sind, bis in späte Zeiten sich erhalten. Wenn wir nun fragen, in welcher Weise in späteren Zeiten zusammengesetzte, abgeleitete und flectirte Wörter und Wort- formen wirklich entstehen, so trage ich kein Bedenken, dem Ausspruche Delbrück's im allgemeinen beizustimmen, ohne dass ich mir bewusst bin, mich jemals damit in Widerspruch befunden zu haben. Delbrück sagt a. a. O.: „Da Neubildungen in einer fertigen Sprache nicht mehr durch Zusammensetzung der constituirenden Elemente gebildet werden können, falls diese Elemente nicht selbst fertige Wörter sind, so können alle übrigen Neubildungen nur auf dem Wege der Analogiebil- dung zu Stande kommen. Neubildungen sind Nachbildungen“. Das durchgehende Gesetz, dass das erste Glied eines nomi- nalen Compositums und dass der Stamm zahlloser abgeleiteter Nominalformen den flexionslosen Stamm *) enthält oder jeden- falls von diesem ausgegangen ist, erklärt sich einfach auf diese Weise. Um uns die Sache durch einige Beispiele klar *) Scherer sagt bei der Besprechung meiner „Chronologie“ in voller Uebereinstimmung hiermit Z. Gesch. d. d. Sprache2 677: „Die Composita sind die älteste sprachliche Urkunde die wir besitzen“. Auch dem stimme ich völlig bei, was S. 476 desselben Buches bemerkt wird: „Die Zusammen- setzung als sprachliches Mittel beruht darauf, dass in der Epoche der blossen Juxtaposition materieller Wörter feste, stammhafte Verbindungen von solcher Macht und Bedeutung entstanden, dass sie beibehalten wur- den, als jene Periode ihr Ende nahm, und dergestalt innerhalb einer Sprach- entwicklung, die von ganz andern Mächten bewegt wird, das Vorbild und Muster für neue Formationen abgaben“.

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/143>, abgerufen am 29.03.2024.