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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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französischen Gelehrten: "Le gouna est mort!" Man be-
trachtet vielmehr die vollere Form als die ältere, stellt Wur-
zeln wie leip pheug sanp auf und glaubt die Kürzung in den
andern Formen aus der Tonlosigkeit der betreffenden Silben
erklären zu können.

Da ich auf diese Fragen schon in meinem Verbum II2 35 ff.
eingegangen bin, beschränke ich mich hier auf eine kurze Zu-
sammenfassung des dort erörterten, woran sich dann noch
einige wenige Betrachtungen knüpfen werden.

1) Die "absteigende" Theorie, das heisst die Erklärung
der kurzen Formen aus den volleren durch Einfluss des Ac-
centes *), hat von vorn herein nur in einem beschränkten Kreise
einige Wahrscheinlichkeit, namentlich bei unthematischen For-
men, z. B. sanskr. venda (ich weiss), 1. Pl. vid-ma, enmi (= eimi),
i-mas. Thematische Formen, in denen die gleiche Betonung
herrscht, können nur in einzelnen Fällen, z. B. lipein, phugon,
beigebracht werden, während uns schon bei ephugon neben
epheugon jenes Princip im Stiche lässt.

2) Selbst zugegeben, dass der Hochton der Endsilbe die
Reduction eines au (eu) zu u (u), des ai (ei) zu i bewirkt hätte,
würde das Ausspringen eines a (e) Schwierigkeiten machen.
Zu diesen beiden Gründen füge ich hinzu:

3) Die Consequenz in der Einhaltung der "absteigenden"
Richtung wäre die, alle kurzen Vocale einer späteren Sprach-
periode zuzuweisen.

Wir hätten also eine Ursprache vorauszusetzen, welche
durchweg aus langsilbigen Wurzeln, z. B. aus Wurzeln wie
baudh (peuthomai), kand (kedomai), ond (ododa), bestände. Ist
eine solche Annahme wohl wahrscheinlich? Ritschl redete
gern von der Schwerwuchtigkeit der altlateinischen Sprache,

*) Es darf freilich nicht übersehen werden, dass in diesem Punkte
keine Einstimmigkeit herrscht. F. de Saussure hat darüber seine beson-
dern Reserven.

französischen Gelehrten: „Le gouna est mort!“ Man be-
trachtet vielmehr die vollere Form als die ältere, stellt Wur-
zeln wie λειπ φευγ σᾱπ auf und glaubt die Kürzung in den
andern Formen aus der Tonlosigkeit der betreffenden Silben
erklären zu können.

Da ich auf diese Fragen schon in meinem Verbum II2 35 ff.
eingegangen bin, beschränke ich mich hier auf eine kurze Zu-
sammenfassung des dort erörterten, woran sich dann noch
einige wenige Betrachtungen knüpfen werden.

1) Die „absteigende“ Theorie, das heisst die Erklärung
der kurzen Formen aus den volleren durch Einfluss des Ac-
centes *), hat von vorn herein nur in einem beschränkten Kreise
einige Wahrscheinlichkeit, namentlich bei unthematischen For-
men, z. B. sanskr. vḗda (ich weiss), 1. Pl. vid-má, ḗmi (= εἶμι),
i-más. Thematische Formen, in denen die gleiche Betonung
herrscht, können nur in einzelnen Fällen, z. B. λιπεῖν, φυγών,
beigebracht werden, während uns schon bei ἔφυγον neben
ἔφευγον jenes Princip im Stiche lässt.

2) Selbst zugegeben, dass der Hochton der Endsilbe die
Reduction eines au (ευ) zu (ῠ), des ai (ει) zu bewirkt hätte,
würde das Ausspringen eines (ε) Schwierigkeiten machen.
Zu diesen beiden Gründen füge ich hinzu:

3) Die Consequenz in der Einhaltung der „absteigenden"
Richtung wäre die, alle kurzen Vocale einer späteren Sprach-
periode zuzuweisen.

Wir hätten also eine Ursprache vorauszusetzen, welche
durchweg aus langsilbigen Wurzeln, z. B. aus Wurzeln wie
baudh (πεύθομαι), kād (κήδομαι), ōd (ὄδωδα), bestände. Ist
eine solche Annahme wohl wahrscheinlich? Ritschl redete
gern von der Schwerwuchtigkeit der altlateinischen Sprache,

*) Es darf freilich nicht übersehen werden, dass in diesem Punkte
keine Einstimmigkeit herrscht. F. de Saussure hat darüber seine beson-
dern Reserven.
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[121/0129] französischen Gelehrten: „Le gouna est mort!“ Man be- trachtet vielmehr die vollere Form als die ältere, stellt Wur- zeln wie λειπ φευγ σᾱπ auf und glaubt die Kürzung in den andern Formen aus der Tonlosigkeit der betreffenden Silben erklären zu können. Da ich auf diese Fragen schon in meinem Verbum II2 35 ff. eingegangen bin, beschränke ich mich hier auf eine kurze Zu- sammenfassung des dort erörterten, woran sich dann noch einige wenige Betrachtungen knüpfen werden. 1) Die „absteigende“ Theorie, das heisst die Erklärung der kurzen Formen aus den volleren durch Einfluss des Ac- centes *), hat von vorn herein nur in einem beschränkten Kreise einige Wahrscheinlichkeit, namentlich bei unthematischen For- men, z. B. sanskr. vḗda (ich weiss), 1. Pl. vid-má, ḗmi (= εἶμι), i-más. Thematische Formen, in denen die gleiche Betonung herrscht, können nur in einzelnen Fällen, z. B. λιπεῖν, φυγών, beigebracht werden, während uns schon bei ἔφυγον neben ἔφευγον jenes Princip im Stiche lässt. 2) Selbst zugegeben, dass der Hochton der Endsilbe die Reduction eines au (ευ) zu ŭ (ῠ), des ai (ει) zu ĭ bewirkt hätte, würde das Ausspringen eines ă (ε) Schwierigkeiten machen. Zu diesen beiden Gründen füge ich hinzu: 3) Die Consequenz in der Einhaltung der „absteigenden" Richtung wäre die, alle kurzen Vocale einer späteren Sprach- periode zuzuweisen. Wir hätten also eine Ursprache vorauszusetzen, welche durchweg aus langsilbigen Wurzeln, z. B. aus Wurzeln wie baudh (πεύθομαι), kād (κήδομαι), ōd (ὄδωδα), bestände. Ist eine solche Annahme wohl wahrscheinlich? Ritschl redete gern von der Schwerwuchtigkeit der altlateinischen Sprache, *) Es darf freilich nicht übersehen werden, dass in diesem Punkte keine Einstimmigkeit herrscht. F. de Saussure hat darüber seine beson- dern Reserven.

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/129>, abgerufen am 29.03.2024.