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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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Lehre hier und da nicht unerhebliche Schwierigkeiten ent-
gegen. Von der W. r oder ar ausgehend, könnten wir für die
Grundsprache eben nur diesen Vocalismus und die weit rei-
chende allgemeine Bedeutung des Gehens oder der Bewegung
annehmen, die sich in Europa in die drei Phasen ar (zusam-
mengehn, fügen, passen, Grundz.5 S. 339), er (treiben, rudern,
ebenda S. 342), or (aufgehn, erheben, S. 346) spaltet. Bei
dieser Auffassung hat es nichts befremdliches, wenn im Ari-
schen die dritte dieser Phasen neben sanskr. anrta = orto
als inr (sich erheben, erregen) und im Zend als ir (vom Auf-
gehn der Gestirne) erscheint. Denn inr wie ir sind eben jene
Verdünnungen des A-Lauts, die wir als für dies Gebiet cha-
rakteristisch kennen lernten. Aber wenn man der neuen Lehre
gemäss die Dreiheit ar, er, or schon als ursprachlich ansetzt,
wie will man da das i im Arischen erklären? Oder sollten
die Arier, nachdem sie die drei Wurzeln früher deutlich unter-
schieden hatten, später wieder alles durch einander gewirrt
haben ? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass die Silben ar, er, or
im Osten lautlich wie begrifflich ungeschieden waren und
blieben und erst bei den Westindogermanen sich bestimmt
sonderten? Dass die Sprache etwas, was sie früher besessen
hat, nicht so leicht spurlos aufgibt, das ist doch ein wohl be-
gründeter Satz der Wissenschaft. Die dritte dieser Phasen,
or, ist sogar auf den ersten Blick nur gräcoitalisch. Vielleicht
aber darf man, wie in or-ni-s, so im ksl. orilu und im ahd.
arn (Adler), eine Spur dieser Phase finden.

Wir haben bisher die neue Hypothese daraufhin geprüft,
wie weit die für sie beigebrachten Argumente überzeugend
sind, und es haben sich uns namentlich drei Hauptpunkte
herausgestellt, welche gegen dieselbe sprechen:

1) die Unerklärbarkeit der Entstehung des arischen a aus
ursprachlicher Dreiheit,

2) die Unzulänglichkeit der Versuche, auch für das Arische
Spuren eines uralten e nachzuweisen,


Lehre hier und da nicht unerhebliche Schwierigkeiten ent-
gegen. Von der W. oder ar ausgehend, könnten wir für die
Grundsprache eben nur diesen Vocalismus und die weit rei-
chende allgemeine Bedeutung des Gehens oder der Bewegung
annehmen, die sich in Europa in die drei Phasen ar (zusam-
mengehn, fügen, passen, Grundz.⁵ S. 339), er (treiben, rudern,
ebenda S. 342), or (aufgehn, erheben, S. 346) spaltet. Bei
dieser Auffassung hat es nichts befremdliches, wenn im Ari-
schen die dritte dieser Phasen neben sanskr. ārta = ὦρτο
als īr (sich erheben, erregen) und im Zend als ir (vom Auf-
gehn der Gestirne) erscheint. Denn īr wie ir sind eben jene
Verdünnungen des A-Lauts, die wir als für dies Gebiet cha-
rakteristisch kennen lernten. Aber wenn man der neuen Lehre
gemäss die Dreiheit ar, er, or schon als ursprachlich ansetzt,
wie will man da das i im Arischen erklären? Oder sollten
die Arier, nachdem sie die drei Wurzeln früher deutlich unter-
schieden hatten, später wieder alles durch einander gewirrt
haben ? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass die Silben ar, er, or
im Osten lautlich wie begrifflich ungeschieden waren und
blieben und erst bei den Westindogermanen sich bestimmt
sonderten? Dass die Sprache etwas, was sie früher besessen
hat, nicht so leicht spurlos aufgibt, das ist doch ein wohl be-
gründeter Satz der Wissenschaft. Die dritte dieser Phasen,
or, ist sogar auf den ersten Blick nur gräcoitalisch. Vielleicht
aber darf man, wie in ὄρ-νι-ς, so im ksl. orĭlŭ und im ahd.
arn (Adler), eine Spur dieser Phase finden.

Wir haben bisher die neue Hypothese daraufhin geprüft,
wie weit die für sie beigebrachten Argumente überzeugend
sind, und es haben sich uns namentlich drei Hauptpunkte
herausgestellt, welche gegen dieselbe sprechen:

1) die Unerklärbarkeit der Entstehung des arischen a aus
ursprachlicher Dreiheit,

2) die Unzulänglichkeit der Versuche, auch für das Arische
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[109/0117] Lehre hier und da nicht unerhebliche Schwierigkeiten ent- gegen. Von der W. ṛ oder ar ausgehend, könnten wir für die Grundsprache eben nur diesen Vocalismus und die weit rei- chende allgemeine Bedeutung des Gehens oder der Bewegung annehmen, die sich in Europa in die drei Phasen ar (zusam- mengehn, fügen, passen, Grundz.⁵ S. 339), er (treiben, rudern, ebenda S. 342), or (aufgehn, erheben, S. 346) spaltet. Bei dieser Auffassung hat es nichts befremdliches, wenn im Ari- schen die dritte dieser Phasen neben sanskr. ārta = ὦρτο als īr (sich erheben, erregen) und im Zend als ir (vom Auf- gehn der Gestirne) erscheint. Denn īr wie ir sind eben jene Verdünnungen des A-Lauts, die wir als für dies Gebiet cha- rakteristisch kennen lernten. Aber wenn man der neuen Lehre gemäss die Dreiheit ar, er, or schon als ursprachlich ansetzt, wie will man da das i im Arischen erklären? Oder sollten die Arier, nachdem sie die drei Wurzeln früher deutlich unter- schieden hatten, später wieder alles durch einander gewirrt haben ? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass die Silben ar, er, or im Osten lautlich wie begrifflich ungeschieden waren und blieben und erst bei den Westindogermanen sich bestimmt sonderten? Dass die Sprache etwas, was sie früher besessen hat, nicht so leicht spurlos aufgibt, das ist doch ein wohl be- gründeter Satz der Wissenschaft. Die dritte dieser Phasen, or, ist sogar auf den ersten Blick nur gräcoitalisch. Vielleicht aber darf man, wie in ὄρ-νι-ς, so im ksl. orĭlŭ und im ahd. arn (Adler), eine Spur dieser Phase finden. Wir haben bisher die neue Hypothese daraufhin geprüft, wie weit die für sie beigebrachten Argumente überzeugend sind, und es haben sich uns namentlich drei Hauptpunkte herausgestellt, welche gegen dieselbe sprechen: 1) die Unerklärbarkeit der Entstehung des arischen a aus ursprachlicher Dreiheit, 2) die Unzulänglichkeit der Versuche, auch für das Arische Spuren eines uralten e nachzuweisen,

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/117>, abgerufen am 16.04.2024.