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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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europäisch zu erweisen suchte. Es war dies keine Bestrei-
tung der bis dahin geltenden älteren Hypothese, wohl aber
eine festere chronologische Bestimmung und eine Begrenzung
des Gebietes, welchem der monotone Vocalismus allein zu-
komme, sowie eine Zurückweisung falscher Anwendungen
jener Hypothese. Kein Einwand kann gegen diese Auffassung
dem Armenischen entnommen werden, wie dies wohl ge-
schehen ist. Denn diese Sprache gehört offenbar zur euro-
päischen Gruppe. Andrerseits wird die ganze Erscheinung,
die ich "Spaltung" nenne, dann viel weniger befremdlich, wenn
sie bei einem damals einheitlichen Volke gemeinsam eintrat
und in weitem Umfange regelmässig sich geltend machte, so in
der Stammsilbe des Präsens zahlreicher Verba der E-Laut, in
derselben Silbe bei Substantiven der O-Laut. Es war dar-
nach ja nicht im mindesten von einer "Laune" der Sprache
die Rede, sondern es gelang wenigstens vielfach, die einzelnen
Phasen des alten kurzen a für bestimmte Stellen der Wörter
nachzuweisen.

Sehr natürlich war es nun, dass man auf diesem Wege
weiter fortschritt, und jede Untersuchung, die von irgend einer
Seite wirkliche Aufschlüsse brachte, konnte nur willkommen
sein. Aber es fragt sich eben, ob dies der Fall war, und zu-
nächst wäre es doch wohl am Platze gewesen zu sagen, warum
denn die alte Lehre zu verwerfen, oder wenigstens warum die
neue ihr vorzuziehen sei. Dies ist so gut wie gar nicht ge-
schehen, und wo man es versucht hat, ist nach meiner Ueber-
zeugung die Antwort nicht gelungen.

Einen Versuch der Widerlegung der bis 1876 allgemein
angenommenen Lehre finde ich bei Misteli in Steinthal's Zeit-
schrift XI, 318 angedeutet. Er sagt, es habe sich auf dem
alten Wege nicht viel weiter kommen lassen, "weil kein Mensch
zu sagen wusste, nach welchem Gesetz das indogermanische a
in den Dreiklang a e o aus einander gegangen sei". Mit die-
sem Vermiss bat es seine Richtigkeit. Denn in der That waren

europäisch zu erweisen suchte. Es war dies keine Bestrei-
tung der bis dahin geltenden älteren Hypothese, wohl aber
eine festere chronologische Bestimmung und eine Begrenzung
des Gebietes, welchem der monotone Vocalismus allein zu-
komme, sowie eine Zurückweisung falscher Anwendungen
jener Hypothese. Kein Einwand kann gegen diese Auffassung
dem Armenischen entnommen werden, wie dies wohl ge-
schehen ist. Denn diese Sprache gehört offenbar zur euro-
päischen Gruppe. Andrerseits wird die ganze Erscheinung,
die ich „Spaltung“ nenne, dann viel weniger befremdlich, wenn
sie bei einem damals einheitlichen Volke gemeinsam eintrat
und in weitem Umfange regelmässig sich geltend machte, so in
der Stammsilbe des Präsens zahlreicher Verba der E-Laut, in
derselben Silbe bei Substantiven der O-Laut. Es war dar-
nach ja nicht im mindesten von einer „Laune“ der Sprache
die Rede, sondern es gelang wenigstens vielfach, die einzelnen
Phasen des alten kurzen a für bestimmte Stellen der Wörter
nachzuweisen.

Sehr natürlich war es nun, dass man auf diesem Wege
weiter fortschritt, und jede Untersuchung, die von irgend einer
Seite wirkliche Aufschlüsse brachte, konnte nur willkommen
sein. Aber es fragt sich eben, ob dies der Fall war, und zu-
nächst wäre es doch wohl am Platze gewesen zu sagen, warum
denn die alte Lehre zu verwerfen, oder wenigstens warum die
neue ihr vorzuziehen sei. Dies ist so gut wie gar nicht ge-
schehen, und wo man es versucht hat, ist nach meiner Ueber-
zeugung die Antwort nicht gelungen.

Einen Versuch der Widerlegung der bis 1876 allgemein
angenommenen Lehre finde ich bei Misteli in Steinthal's Zeit-
schrift XI, 318 angedeutet. Er sagt, es habe sich auf dem
alten Wege nicht viel weiter kommen lassen, „weil kein Mensch
zu sagen wusste, nach welchem Gesetz das indogermanische a
in den Dreiklang a e o aus einander gegangen sei“. Mit die-
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[95/0103] europäisch zu erweisen suchte. Es war dies keine Bestrei- tung der bis dahin geltenden älteren Hypothese, wohl aber eine festere chronologische Bestimmung und eine Begrenzung des Gebietes, welchem der monotone Vocalismus allein zu- komme, sowie eine Zurückweisung falscher Anwendungen jener Hypothese. Kein Einwand kann gegen diese Auffassung dem Armenischen entnommen werden, wie dies wohl ge- schehen ist. Denn diese Sprache gehört offenbar zur euro- päischen Gruppe. Andrerseits wird die ganze Erscheinung, die ich „Spaltung“ nenne, dann viel weniger befremdlich, wenn sie bei einem damals einheitlichen Volke gemeinsam eintrat und in weitem Umfange regelmässig sich geltend machte, so in der Stammsilbe des Präsens zahlreicher Verba der E-Laut, in derselben Silbe bei Substantiven der O-Laut. Es war dar- nach ja nicht im mindesten von einer „Laune“ der Sprache die Rede, sondern es gelang wenigstens vielfach, die einzelnen Phasen des alten kurzen a für bestimmte Stellen der Wörter nachzuweisen. Sehr natürlich war es nun, dass man auf diesem Wege weiter fortschritt, und jede Untersuchung, die von irgend einer Seite wirkliche Aufschlüsse brachte, konnte nur willkommen sein. Aber es fragt sich eben, ob dies der Fall war, und zu- nächst wäre es doch wohl am Platze gewesen zu sagen, warum denn die alte Lehre zu verwerfen, oder wenigstens warum die neue ihr vorzuziehen sei. Dies ist so gut wie gar nicht ge- schehen, und wo man es versucht hat, ist nach meiner Ueber- zeugung die Antwort nicht gelungen. Einen Versuch der Widerlegung der bis 1876 allgemein angenommenen Lehre finde ich bei Misteli in Steinthal's Zeit- schrift XI, 318 angedeutet. Er sagt, es habe sich auf dem alten Wege nicht viel weiter kommen lassen, „weil kein Mensch zu sagen wusste, nach welchem Gesetz das indogermanische a in den Dreiklang a e o aus einander gegangen sei“. Mit die- sem Vermiss bat es seine Richtigkeit. Denn in der That waren

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/103>, abgerufen am 24.04.2024.