Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Wäre Bonaparte in Litthauen stehen geblieben, wie
die meisten Kritiker gewollt haben, um sich erst der Festun-
gen zu versichern, deren es übrigens, außer dem völlig
seitwärts gelegenen Riga, kaum eine gab, weil Bobruisk
ein kleines unbedeutendes Nest ist: so würde er sich für
den Winter in ein trauriges Vertheidigungssystem ver-
wickelt haben; dann würden dieselben Leute die ersten ge-
wesen sein welche ausgerufen hätten: das ist nicht mehr
der alte Bonaparte! Wie, nicht einmal zu einer ersten
Hauptschlacht hat er es getrieben, er der seine Eroberungen
durch die Siege von Austerlitz und Friedland an den letzten
Mauern der feindlichen Staaten zu besiegeln pflegte? Die
feindliche Hauptstadt, das entblößte zum Fall bereite Mos-
kau hat er zu nehmen zaghaft versäumt und dadurch
den Kern bestehen lassen um den sich neuer Widerstand
sammeln konnte? Er hat das unerhörte Glück diesen ent-
fernten ungeheuern Koloß zu überfallen, wie man eine
benachbarte Stadt oder wie Friedrich der Große das
kleine nahe Schlesien überfällt, und er benutzt diesen Vor-
theil nicht, hält mitten im Siegeslauf inne als wenn sich
ein böser Geist an seine Fersen gelegt hätte? -- So würden
die Leute geurtheilt haben, denn so sind die Urtheile der
meisten Kritiker beschaffen.

Wir sagen: der Feldzug von 1812 ist nicht gelungen,
weil die feindliche Regierung fest, das Volk treu und
standhaft blieb, weil er also nicht gelingen konnte. Es
mag ein Fehler Bonapartes sein ihn unternommen zu
haben, wenigstens hat der Erfolg gezeigt daß er sich in
seinem Kalkül betrogen hat, aber wir behaupten, daß,
wenn dieses Ziel gesucht werden sollte, es der Hauptsache
nach nicht anders zu erreichen war.

Anstatt sich im Osten einen endlosen kostbaren Ver-

Waͤre Bonaparte in Litthauen ſtehen geblieben, wie
die meiſten Kritiker gewollt haben, um ſich erſt der Feſtun-
gen zu verſichern, deren es uͤbrigens, außer dem voͤllig
ſeitwaͤrts gelegenen Riga, kaum eine gab, weil Bobruisk
ein kleines unbedeutendes Neſt iſt: ſo wuͤrde er ſich fuͤr
den Winter in ein trauriges Vertheidigungsſyſtem ver-
wickelt haben; dann wuͤrden dieſelben Leute die erſten ge-
weſen ſein welche ausgerufen haͤtten: das iſt nicht mehr
der alte Bonaparte! Wie, nicht einmal zu einer erſten
Hauptſchlacht hat er es getrieben, er der ſeine Eroberungen
durch die Siege von Auſterlitz und Friedland an den letzten
Mauern der feindlichen Staaten zu beſiegeln pflegte? Die
feindliche Hauptſtadt, das entbloͤßte zum Fall bereite Mos-
kau hat er zu nehmen zaghaft verſaͤumt und dadurch
den Kern beſtehen laſſen um den ſich neuer Widerſtand
ſammeln konnte? Er hat das unerhoͤrte Gluͤck dieſen ent-
fernten ungeheuern Koloß zu uͤberfallen, wie man eine
benachbarte Stadt oder wie Friedrich der Große das
kleine nahe Schleſien uͤberfaͤllt, und er benutzt dieſen Vor-
theil nicht, haͤlt mitten im Siegeslauf inne als wenn ſich
ein boͤſer Geiſt an ſeine Ferſen gelegt haͤtte? — So wuͤrden
die Leute geurtheilt haben, denn ſo ſind die Urtheile der
meiſten Kritiker beſchaffen.

Wir ſagen: der Feldzug von 1812 iſt nicht gelungen,
weil die feindliche Regierung feſt, das Volk treu und
ſtandhaft blieb, weil er alſo nicht gelingen konnte. Es
mag ein Fehler Bonapartes ſein ihn unternommen zu
haben, wenigſtens hat der Erfolg gezeigt daß er ſich in
ſeinem Kalkuͤl betrogen hat, aber wir behaupten, daß,
wenn dieſes Ziel geſucht werden ſollte, es der Hauptſache
nach nicht anders zu erreichen war.

Anſtatt ſich im Oſten einen endloſen koſtbaren Ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0197" n="183"/>
          <p>Wa&#x0364;re Bonaparte in Litthauen &#x017F;tehen geblieben, wie<lb/>
die mei&#x017F;ten Kritiker gewollt haben, um &#x017F;ich er&#x017F;t der Fe&#x017F;tun-<lb/>
gen zu ver&#x017F;ichern, deren es u&#x0364;brigens, außer dem vo&#x0364;llig<lb/>
&#x017F;eitwa&#x0364;rts gelegenen Riga, kaum eine gab, weil Bobruisk<lb/>
ein kleines unbedeutendes Ne&#x017F;t i&#x017F;t: &#x017F;o wu&#x0364;rde er &#x017F;ich fu&#x0364;r<lb/>
den Winter in ein trauriges Vertheidigungs&#x017F;y&#x017F;tem ver-<lb/>
wickelt haben; dann wu&#x0364;rden die&#x017F;elben Leute die er&#x017F;ten ge-<lb/>
we&#x017F;en &#x017F;ein welche ausgerufen ha&#x0364;tten: das i&#x017F;t nicht mehr<lb/>
der alte Bonaparte! Wie, nicht einmal zu einer er&#x017F;ten<lb/>
Haupt&#x017F;chlacht hat er es getrieben, er der &#x017F;eine Eroberungen<lb/>
durch die Siege von Au&#x017F;terlitz und Friedland an den letzten<lb/>
Mauern der feindlichen Staaten zu be&#x017F;iegeln pflegte? Die<lb/>
feindliche Haupt&#x017F;tadt, das entblo&#x0364;ßte zum Fall bereite Mos-<lb/>
kau hat er zu nehmen zaghaft ver&#x017F;a&#x0364;umt und dadurch<lb/>
den Kern be&#x017F;tehen la&#x017F;&#x017F;en um den &#x017F;ich neuer Wider&#x017F;tand<lb/>
&#x017F;ammeln konnte? Er hat das unerho&#x0364;rte Glu&#x0364;ck die&#x017F;en ent-<lb/>
fernten ungeheuern Koloß zu u&#x0364;berfallen, wie man eine<lb/>
benachbarte Stadt oder wie Friedrich der Große das<lb/>
kleine nahe Schle&#x017F;ien u&#x0364;berfa&#x0364;llt, und er benutzt die&#x017F;en Vor-<lb/>
theil nicht, ha&#x0364;lt mitten im Siegeslauf inne als wenn &#x017F;ich<lb/>
ein bo&#x0364;&#x017F;er Gei&#x017F;t an &#x017F;eine Fer&#x017F;en gelegt ha&#x0364;tte? &#x2014; So wu&#x0364;rden<lb/>
die Leute geurtheilt haben, denn &#x017F;o &#x017F;ind die Urtheile der<lb/>
mei&#x017F;ten Kritiker be&#x017F;chaffen.</p><lb/>
          <p>Wir &#x017F;agen: der Feldzug von 1812 i&#x017F;t nicht gelungen,<lb/>
weil die feindliche Regierung fe&#x017F;t, das Volk treu und<lb/>
&#x017F;tandhaft blieb, weil er al&#x017F;o nicht gelingen konnte. Es<lb/>
mag ein Fehler Bonapartes &#x017F;ein ihn unternommen zu<lb/>
haben, wenig&#x017F;tens hat der Erfolg gezeigt daß er &#x017F;ich in<lb/>
&#x017F;einem Kalku&#x0364;l betrogen hat, aber wir behaupten, daß,<lb/>
wenn die&#x017F;es Ziel ge&#x017F;ucht werden &#x017F;ollte, es der Haupt&#x017F;ache<lb/>
nach nicht anders zu erreichen war.</p><lb/>
          <p>An&#x017F;tatt &#x017F;ich im O&#x017F;ten einen endlo&#x017F;en ko&#x017F;tbaren Ver-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0197] Waͤre Bonaparte in Litthauen ſtehen geblieben, wie die meiſten Kritiker gewollt haben, um ſich erſt der Feſtun- gen zu verſichern, deren es uͤbrigens, außer dem voͤllig ſeitwaͤrts gelegenen Riga, kaum eine gab, weil Bobruisk ein kleines unbedeutendes Neſt iſt: ſo wuͤrde er ſich fuͤr den Winter in ein trauriges Vertheidigungsſyſtem ver- wickelt haben; dann wuͤrden dieſelben Leute die erſten ge- weſen ſein welche ausgerufen haͤtten: das iſt nicht mehr der alte Bonaparte! Wie, nicht einmal zu einer erſten Hauptſchlacht hat er es getrieben, er der ſeine Eroberungen durch die Siege von Auſterlitz und Friedland an den letzten Mauern der feindlichen Staaten zu beſiegeln pflegte? Die feindliche Hauptſtadt, das entbloͤßte zum Fall bereite Mos- kau hat er zu nehmen zaghaft verſaͤumt und dadurch den Kern beſtehen laſſen um den ſich neuer Widerſtand ſammeln konnte? Er hat das unerhoͤrte Gluͤck dieſen ent- fernten ungeheuern Koloß zu uͤberfallen, wie man eine benachbarte Stadt oder wie Friedrich der Große das kleine nahe Schleſien uͤberfaͤllt, und er benutzt dieſen Vor- theil nicht, haͤlt mitten im Siegeslauf inne als wenn ſich ein boͤſer Geiſt an ſeine Ferſen gelegt haͤtte? — So wuͤrden die Leute geurtheilt haben, denn ſo ſind die Urtheile der meiſten Kritiker beſchaffen. Wir ſagen: der Feldzug von 1812 iſt nicht gelungen, weil die feindliche Regierung feſt, das Volk treu und ſtandhaft blieb, weil er alſo nicht gelingen konnte. Es mag ein Fehler Bonapartes ſein ihn unternommen zu haben, wenigſtens hat der Erfolg gezeigt daß er ſich in ſeinem Kalkuͤl betrogen hat, aber wir behaupten, daß, wenn dieſes Ziel geſucht werden ſollte, es der Hauptſache nach nicht anders zu erreichen war. Anſtatt ſich im Oſten einen endloſen koſtbaren Ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Clausewitz' "Vom Kriege" erschien zu Lebzeiten de… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clausewitz_krieg03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clausewitz_krieg03_1834/197
Zitationshilfe: Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clausewitz_krieg03_1834/197>, abgerufen am 19.04.2024.