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Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Bd. 3. Berlin, 1834.

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den Charakter seiner Regierung, seines Volkes, die Fähig-
keiten beider, und alles das wieder von unserer Seite;
wir müssen die politischen Verbindungen anderer Staaten
und die Wirkungen, welche der Krieg darin hervorbringen
kann, in Betrachtung ziehen. Daß das Abwägen dieser
mannichfachen und mannichfach durcheinandergreifenden Ge-
genstände eine große Aufgabe, daß es ein wahrer Lichtblick
des Genies ist, hierin schnell das Rechte herauszufinden,
während es ganz unmöglich sein würde, durch eine bloße
schulgerechte Überlegung der Mannichfaltigkeit Herr zu
werden: ist leicht zu begreifen.

In diesem Sinne hat Bonaparte ganz richtig gesagt:
es würde eine algebraische Aufgabe werden, vor der selbst
ein Newton zurückschrecken könnte.

Erschweren die Mannichfaltigkeit und Größe der Ver-
hältnisse und die Unsicherheit des rechten Maaßes das
günstige Resultat in hohem Grade, so müssen wir nicht
übersehen, daß die ungeheure vergleichungslose Wichtig-
keit
der Sache, wenn auch nicht die Verwickelung und
Schwierigkeit der Aufgabe, doch das Verdienst der Lösung
steigert. Die Freiheit und Thätigkeit des Geistes wird im
gewöhnlichen Menschen durch die Gefahr und Verantwort-
lichkeit nicht erhöhet, sondern heruntergedrückt; wo aber
diese Dinge das Urtheil beflügeln und kräftigen, da dürfen
wir nicht an seltener Seelengröße zweifeln.

Wir müssen also zuvörderst einräumen, daß das Ur-
theil über einen bevorstehenden Krieg, über das Ziel welches
er haben darf, über die Mittel welche nöthig sind, nur
aus dem Gesammtüberblick aller Verhältnisse entstehen
kann, in welchem also die individuellsten Züge des Augen-
blicks mitverflochten sind, und daß dieses Urtheil, wie
jedes im kriegerischen Leben, niemals rein objektiv sein

den Charakter ſeiner Regierung, ſeines Volkes, die Faͤhig-
keiten beider, und alles das wieder von unſerer Seite;
wir muͤſſen die politiſchen Verbindungen anderer Staaten
und die Wirkungen, welche der Krieg darin hervorbringen
kann, in Betrachtung ziehen. Daß das Abwaͤgen dieſer
mannichfachen und mannichfach durcheinandergreifenden Ge-
genſtaͤnde eine große Aufgabe, daß es ein wahrer Lichtblick
des Genies iſt, hierin ſchnell das Rechte herauszufinden,
waͤhrend es ganz unmoͤglich ſein wuͤrde, durch eine bloße
ſchulgerechte Überlegung der Mannichfaltigkeit Herr zu
werden: iſt leicht zu begreifen.

In dieſem Sinne hat Bonaparte ganz richtig geſagt:
es wuͤrde eine algebraiſche Aufgabe werden, vor der ſelbſt
ein Newton zuruͤckſchrecken koͤnnte.

Erſchweren die Mannichfaltigkeit und Groͤße der Ver-
haͤltniſſe und die Unſicherheit des rechten Maaßes das
guͤnſtige Reſultat in hohem Grade, ſo muͤſſen wir nicht
uͤberſehen, daß die ungeheure vergleichungsloſe Wichtig-
keit
der Sache, wenn auch nicht die Verwickelung und
Schwierigkeit der Aufgabe, doch das Verdienſt der Loͤſung
ſteigert. Die Freiheit und Thaͤtigkeit des Geiſtes wird im
gewoͤhnlichen Menſchen durch die Gefahr und Verantwort-
lichkeit nicht erhoͤhet, ſondern heruntergedruͤckt; wo aber
dieſe Dinge das Urtheil befluͤgeln und kraͤftigen, da duͤrfen
wir nicht an ſeltener Seelengroͤße zweifeln.

Wir muͤſſen alſo zuvoͤrderſt einraͤumen, daß das Ur-
theil uͤber einen bevorſtehenden Krieg, uͤber das Ziel welches
er haben darf, uͤber die Mittel welche noͤthig ſind, nur
aus dem Geſammtuͤberblick aller Verhaͤltniſſe entſtehen
kann, in welchem alſo die individuellſten Zuͤge des Augen-
blicks mitverflochten ſind, und daß dieſes Urtheil, wie
jedes im kriegeriſchen Leben, niemals rein objektiv ſein

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[104/0118] den Charakter ſeiner Regierung, ſeines Volkes, die Faͤhig- keiten beider, und alles das wieder von unſerer Seite; wir muͤſſen die politiſchen Verbindungen anderer Staaten und die Wirkungen, welche der Krieg darin hervorbringen kann, in Betrachtung ziehen. Daß das Abwaͤgen dieſer mannichfachen und mannichfach durcheinandergreifenden Ge- genſtaͤnde eine große Aufgabe, daß es ein wahrer Lichtblick des Genies iſt, hierin ſchnell das Rechte herauszufinden, waͤhrend es ganz unmoͤglich ſein wuͤrde, durch eine bloße ſchulgerechte Überlegung der Mannichfaltigkeit Herr zu werden: iſt leicht zu begreifen. In dieſem Sinne hat Bonaparte ganz richtig geſagt: es wuͤrde eine algebraiſche Aufgabe werden, vor der ſelbſt ein Newton zuruͤckſchrecken koͤnnte. Erſchweren die Mannichfaltigkeit und Groͤße der Ver- haͤltniſſe und die Unſicherheit des rechten Maaßes das guͤnſtige Reſultat in hohem Grade, ſo muͤſſen wir nicht uͤberſehen, daß die ungeheure vergleichungsloſe Wichtig- keit der Sache, wenn auch nicht die Verwickelung und Schwierigkeit der Aufgabe, doch das Verdienſt der Loͤſung ſteigert. Die Freiheit und Thaͤtigkeit des Geiſtes wird im gewoͤhnlichen Menſchen durch die Gefahr und Verantwort- lichkeit nicht erhoͤhet, ſondern heruntergedruͤckt; wo aber dieſe Dinge das Urtheil befluͤgeln und kraͤftigen, da duͤrfen wir nicht an ſeltener Seelengroͤße zweifeln. Wir muͤſſen alſo zuvoͤrderſt einraͤumen, daß das Ur- theil uͤber einen bevorſtehenden Krieg, uͤber das Ziel welches er haben darf, uͤber die Mittel welche noͤthig ſind, nur aus dem Geſammtuͤberblick aller Verhaͤltniſſe entſtehen kann, in welchem alſo die individuellſten Zuͤge des Augen- blicks mitverflochten ſind, und daß dieſes Urtheil, wie jedes im kriegeriſchen Leben, niemals rein objektiv ſein

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Zitationshilfe: Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clausewitz_krieg03_1834/118>, abgerufen am 28.03.2024.