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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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diese Atmosphäre doch erst nach der Geburt eindringen soll,
wenn die die Eier des Nachtschmetterlings deckenden Ab¬
sonderungen stärker sich ergießen, so bald ein strengerer
Winter bevorsteht, wenn die Samen so vieler Pflanzen
ihre Flugwerkzeuge, durch welche sie späterhin vom Winde
fortgetragen sich verbreiten sollen, schon lange zuvor inner¬
halb des Samenbehälters an sich ausbilden, so deutet dies
Alles wieder die Macht des Prometheischen und die
Sicherheit des unbewußten Vorausschauens auf das
Bestimmteste an.

Zwei große Thatsachen haben wir sonach bis hieher
für die Kenntniß des innern Seelenlebens gewonnen: ein¬
mal, daß das, was in unserer Seele als ein Unbewu߬
tes, wahrhaft schaffend das Abbild des Urbildes erzeugt,
den Bau dieses Abbildes vollende, in dem es fort und
fort im Leben unendliche Wiederholungen des einen ersten
Typus der Monade, der Urzelle setzt, so daß sonach in
dieser Beziehung jeglicher Organismus in Wahrheit als
eine Welt rastlos entstehender und vergehender Monaden
erscheint, als eine Welt von Einheiten, welche jedoch stets
wieder einer höheren Einheit untergeordnet sind, und in
welcher also dasselbe concentrirende Verhältniß der Vielheit
zur Einheit besteht, worauf im höchsten Sinne alles Be¬
wußtsein des Geistes ruht. Ein andermal sind wir auf
den stätigen innern Zusammenhang zwischen Vergangenheit
und Zukunft in der Geschichte dieser unbewußten Offen¬
barung der Idee im Leben, als Organismus, aufmerksam
geworden, und haben das Prometheische des Beginnen¬
den und das Epimetheische des Gewordenen kennen ler¬
nen, in ihm aber zugleich einerseits die wesentlichste Be¬
dingung dieses Lebens, und andererseits die Vorbereitung
zu Dem erkannt, was, wenn das Bewußtsein sich erschlossen
hat, mit dem Namen der Erinnerung und des Vorher¬
wissens belegt wird.

Bei dem Allen ist nun in dem Vorhergehenden noch

dieſe Atmoſphäre doch erſt nach der Geburt eindringen ſoll,
wenn die die Eier des Nachtſchmetterlings deckenden Ab¬
ſonderungen ſtärker ſich ergießen, ſo bald ein ſtrengerer
Winter bevorſteht, wenn die Samen ſo vieler Pflanzen
ihre Flugwerkzeuge, durch welche ſie ſpäterhin vom Winde
fortgetragen ſich verbreiten ſollen, ſchon lange zuvor inner¬
halb des Samenbehälters an ſich ausbilden, ſo deutet dies
Alles wieder die Macht des Prometheïſchen und die
Sicherheit des unbewußten Vorausſchauens auf das
Beſtimmteſte an.

Zwei große Thatſachen haben wir ſonach bis hieher
für die Kenntniß des innern Seelenlebens gewonnen: ein¬
mal, daß das, was in unſerer Seele als ein Unbewu߬
tes, wahrhaft ſchaffend das Abbild des Urbildes erzeugt,
den Bau dieſes Abbildes vollende, in dem es fort und
fort im Leben unendliche Wiederholungen des einen erſten
Typus der Monade, der Urzelle ſetzt, ſo daß ſonach in
dieſer Beziehung jeglicher Organismus in Wahrheit als
eine Welt raſtlos entſtehender und vergehender Monaden
erſcheint, als eine Welt von Einheiten, welche jedoch ſtets
wieder einer höheren Einheit untergeordnet ſind, und in
welcher alſo daſſelbe concentrirende Verhältniß der Vielheit
zur Einheit beſteht, worauf im höchſten Sinne alles Be¬
wußtſein des Geiſtes ruht. Ein andermal ſind wir auf
den ſtätigen innern Zuſammenhang zwiſchen Vergangenheit
und Zukunft in der Geſchichte dieſer unbewußten Offen¬
barung der Idee im Leben, als Organismus, aufmerkſam
geworden, und haben das Prometheïſche des Beginnen¬
den und das Epimetheïſche des Gewordenen kennen ler¬
nen, in ihm aber zugleich einerſeits die weſentlichſte Be¬
dingung dieſes Lebens, und andererſeits die Vorbereitung
zu Dem erkannt, was, wenn das Bewußtſein ſich erſchloſſen
hat, mit dem Namen der Erinnerung und des Vorher¬
wiſſens belegt wird.

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[29/0045] dieſe Atmoſphäre doch erſt nach der Geburt eindringen ſoll, wenn die die Eier des Nachtſchmetterlings deckenden Ab¬ ſonderungen ſtärker ſich ergießen, ſo bald ein ſtrengerer Winter bevorſteht, wenn die Samen ſo vieler Pflanzen ihre Flugwerkzeuge, durch welche ſie ſpäterhin vom Winde fortgetragen ſich verbreiten ſollen, ſchon lange zuvor inner¬ halb des Samenbehälters an ſich ausbilden, ſo deutet dies Alles wieder die Macht des Prometheïſchen und die Sicherheit des unbewußten Vorausſchauens auf das Beſtimmteſte an. Zwei große Thatſachen haben wir ſonach bis hieher für die Kenntniß des innern Seelenlebens gewonnen: ein¬ mal, daß das, was in unſerer Seele als ein Unbewu߬ tes, wahrhaft ſchaffend das Abbild des Urbildes erzeugt, den Bau dieſes Abbildes vollende, in dem es fort und fort im Leben unendliche Wiederholungen des einen erſten Typus der Monade, der Urzelle ſetzt, ſo daß ſonach in dieſer Beziehung jeglicher Organismus in Wahrheit als eine Welt raſtlos entſtehender und vergehender Monaden erſcheint, als eine Welt von Einheiten, welche jedoch ſtets wieder einer höheren Einheit untergeordnet ſind, und in welcher alſo daſſelbe concentrirende Verhältniß der Vielheit zur Einheit beſteht, worauf im höchſten Sinne alles Be¬ wußtſein des Geiſtes ruht. Ein andermal ſind wir auf den ſtätigen innern Zuſammenhang zwiſchen Vergangenheit und Zukunft in der Geſchichte dieſer unbewußten Offen¬ barung der Idee im Leben, als Organismus, aufmerkſam geworden, und haben das Prometheïſche des Beginnen¬ den und das Epimetheïſche des Gewordenen kennen ler¬ nen, in ihm aber zugleich einerſeits die weſentlichſte Be¬ dingung dieſes Lebens, und andererſeits die Vorbereitung zu Dem erkannt, was, wenn das Bewußtſein ſich erſchloſſen hat, mit dem Namen der Erinnerung und des Vorher¬ wiſſens belegt wird. Bei dem Allen iſt nun in dem Vorhergehenden noch

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/45>, abgerufen am 19.04.2024.