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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Die bisher so ganz unbeachtet gelassene Lehre von die¬
sem Prometheschen und Epimetheschen des Unbewußten
wird uns aber am klarsten hervorgehen wenn wir zunächst
unsere Blicke etwas schärfer richten auf die Geschichte alles
unbewußten organischen Lebens, so auf das geheimnisvolle
stille Fortbilden der Pflanzenwelt, oder auf das unruhigere
bewegtere Leben und Treiben der Thierwelt. In jeder
Regung und in jeder Form werden wir hier, wenn wir
aufmerksamen Geistes sind, verstehen können -- da liege
überall Etwas verborgen, wodurch zurückgedeutet werde
auf ein Vergangenes, Vorherdagewesenes, und wodurch
vorbedeutet werde etwas weiter sich Bildendes, etwas Zu¬
künftiges. So deuten die ersten Theilungen des Pflanzen¬
keims auf die Art und Stellung späterer Blätter, so die
Blätter auf die Art und Stellung der Blumenkrone, und
so zeigt schon die erste Anlage der Blüthe die bestimmte
Gliederung eines Gebildes, aus welchem bei ihrem Lebens¬
anfange die ganze Pflanze hervorging und welches ihr,
obwohl unbewußt, doch so gut im Gedächtniß geblieben ist,
um es auf ihrer Lebenshöhe wieder ganz zu reproduciren,
d. i. des Samenkorns. Ja, beobachten wir das Leben
näher, so sehen wir, es müsse durchaus in seiner Fort¬
strebung ein Gefühl, eine unbewußte Erinnerung von
Dem vorhanden bleiben, was früher vorhanden war,
sonst erklärte sich nicht wie auf der Spitze einer Entwick¬
lung, nach mannichfaltig durchlaufenen Phasen etwas wie¬
derkommen könne, gerade so wie der Keim gestaltet war,
von welchem die Bildung anhub (z. B. das Ei oder das
Samenkorn); und hinwiederum erkennen wir, es müsse
eine bestimmte, wenn auch unbewußte Vorahnung von
Dem in ihm leben, wohin sein Bildungsgang sich rich¬
ten, und was es anstreben solle, sonst wäre der sicher
fortschreitende Gang, das regelmäßige Vorbereiten mancher
Erscheinungen, die an sich nur Durchgangsperioden bilden
können, und selbst immer höhern Zwecken sich unterordnen,

Die bisher ſo ganz unbeachtet gelaſſene Lehre von die¬
ſem Prometheſchen und Epimetheſchen des Unbewußten
wird uns aber am klarſten hervorgehen wenn wir zunächſt
unſere Blicke etwas ſchärfer richten auf die Geſchichte alles
unbewußten organiſchen Lebens, ſo auf das geheimnisvolle
ſtille Fortbilden der Pflanzenwelt, oder auf das unruhigere
bewegtere Leben und Treiben der Thierwelt. In jeder
Regung und in jeder Form werden wir hier, wenn wir
aufmerkſamen Geiſtes ſind, verſtehen können — da liege
überall Etwas verborgen, wodurch zurückgedeutet werde
auf ein Vergangenes, Vorherdageweſenes, und wodurch
vorbedeutet werde etwas weiter ſich Bildendes, etwas Zu¬
künftiges. So deuten die erſten Theilungen des Pflanzen¬
keims auf die Art und Stellung ſpäterer Blätter, ſo die
Blätter auf die Art und Stellung der Blumenkrone, und
ſo zeigt ſchon die erſte Anlage der Blüthe die beſtimmte
Gliederung eines Gebildes, aus welchem bei ihrem Lebens¬
anfange die ganze Pflanze hervorging und welches ihr,
obwohl unbewußt, doch ſo gut im Gedächtniß geblieben iſt,
um es auf ihrer Lebenshöhe wieder ganz zu reproduciren,
d. i. des Samenkorns. Ja, beobachten wir das Leben
näher, ſo ſehen wir, es müſſe durchaus in ſeiner Fort¬
ſtrebung ein Gefühl, eine unbewußte Erinnerung von
Dem vorhanden bleiben, was früher vorhanden war,
ſonſt erklärte ſich nicht wie auf der Spitze einer Entwick¬
lung, nach mannichfaltig durchlaufenen Phaſen etwas wie¬
derkommen könne, gerade ſo wie der Keim geſtaltet war,
von welchem die Bildung anhub (z. B. das Ei oder das
Samenkorn); und hinwiederum erkennen wir, es müſſe
eine beſtimmte, wenn auch unbewußte Vorahnung von
Dem in ihm leben, wohin ſein Bildungsgang ſich rich¬
ten, und was es anſtreben ſolle, ſonſt wäre der ſicher
fortſchreitende Gang, das regelmäßige Vorbereiten mancher
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[27/0043] Die bisher ſo ganz unbeachtet gelaſſene Lehre von die¬ ſem Prometheſchen und Epimetheſchen des Unbewußten wird uns aber am klarſten hervorgehen wenn wir zunächſt unſere Blicke etwas ſchärfer richten auf die Geſchichte alles unbewußten organiſchen Lebens, ſo auf das geheimnisvolle ſtille Fortbilden der Pflanzenwelt, oder auf das unruhigere bewegtere Leben und Treiben der Thierwelt. In jeder Regung und in jeder Form werden wir hier, wenn wir aufmerkſamen Geiſtes ſind, verſtehen können — da liege überall Etwas verborgen, wodurch zurückgedeutet werde auf ein Vergangenes, Vorherdageweſenes, und wodurch vorbedeutet werde etwas weiter ſich Bildendes, etwas Zu¬ künftiges. So deuten die erſten Theilungen des Pflanzen¬ keims auf die Art und Stellung ſpäterer Blätter, ſo die Blätter auf die Art und Stellung der Blumenkrone, und ſo zeigt ſchon die erſte Anlage der Blüthe die beſtimmte Gliederung eines Gebildes, aus welchem bei ihrem Lebens¬ anfange die ganze Pflanze hervorging und welches ihr, obwohl unbewußt, doch ſo gut im Gedächtniß geblieben iſt, um es auf ihrer Lebenshöhe wieder ganz zu reproduciren, d. i. des Samenkorns. Ja, beobachten wir das Leben näher, ſo ſehen wir, es müſſe durchaus in ſeiner Fort¬ ſtrebung ein Gefühl, eine unbewußte Erinnerung von Dem vorhanden bleiben, was früher vorhanden war, ſonſt erklärte ſich nicht wie auf der Spitze einer Entwick¬ lung, nach mannichfaltig durchlaufenen Phaſen etwas wie¬ derkommen könne, gerade ſo wie der Keim geſtaltet war, von welchem die Bildung anhub (z. B. das Ei oder das Samenkorn); und hinwiederum erkennen wir, es müſſe eine beſtimmte, wenn auch unbewußte Vorahnung von Dem in ihm leben, wohin ſein Bildungsgang ſich rich¬ ten, und was es anſtreben ſolle, ſonſt wäre der ſicher fortſchreitende Gang, das regelmäßige Vorbereiten mancher Erſcheinungen, die an ſich nur Durchgangsperioden bilden können, und ſelbſt immer höhern Zwecken ſich unterordnen,

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/43>, abgerufen am 29.03.2024.