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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Atmosphäre bei verminderter Wärme die Idee einer sechs¬
strahligen Krystallisation der Schneeflocke erscheint, und
wir erkennen alsbald: dieses erste bewußtlose Wirken, es
müsse im Allgemeinen als ein zweifaches sich kund geben;
eines Theils nämlich erscheine es als ein sich in einer
und derselben Urgestaltung immerfort
, so lange
überhaupt ein Fortbilden des Organismus stattfindet, sich
rastlos wiederholendes
, sich immer neu setzendes;
andern Theils sei es ein höheres, die Darstellung der
Gesammtheit
eines mannichfaltig gegliederten Organis¬
mus Bezweckendes. Man könnte also sagen, es wiederhole
sich hier am Stoffe selbst der oben berührte Gegensatz
von Stoff und Form noch einmal, indem die endlose
Wiederholung der Urzelle in Millionen eigenleben¬
diger Monaden, oder Zellen, gleichsam den Stoff, das
Material des Organismus darstellt, während die ver¬
schiedenartigen Modificationen
dieser unendlichen
angehäuften Zellen nach dem höhern Schema unserer
gesammten organischen Bildung erst die Form, und da¬
durch -- wie Aristoteles ganz richtig sagt -- "die Wirk¬
lichkeit der ganzen lebendigen Bildung
" begründen.
Nicht bloß jedoch diese räumlich gestaltenden Verhält¬
nisse sind hier wichtig zu beachten, sondern eben so verdient
das Moment der Zeit unsere besondere Aufmerksamkeit.
Wäre nämlich die schaffende Thätigkeit dieses Göttlichen in
uns, welches wir in seiner vollern Entwicklung mit dem
Namen der Seele bezeichnen, bloß eine schlagartig, nur
einmal wirkende, blitzartig erscheinende und nicht in der
Zeit fortgehende, so unterschiede sie sich in nichts von der
eigentlichen Krystallisation oder der Gestaltung eines Glie¬
des des Erdorganismus; aber sie ist in gewissem Maße
andauernd, sie ist umgestaltend, immer zerstörend und neu
bildend, sie ist somit auch eben durch diese Wiederholungen
den Organismus erhaltend, und in dieser unbewußten
Offenbarung eines höhern Organismus tritt dadurch eine

Atmoſphäre bei verminderter Wärme die Idee einer ſechs¬
ſtrahligen Kryſtalliſation der Schneeflocke erſcheint, und
wir erkennen alsbald: dieſes erſte bewußtloſe Wirken, es
müſſe im Allgemeinen als ein zweifaches ſich kund geben;
eines Theils nämlich erſcheine es als ein ſich in einer
und derſelben Urgeſtaltung immerfort
, ſo lange
überhaupt ein Fortbilden des Organismus ſtattfindet, ſich
raſtlos wiederholendes
, ſich immer neu ſetzendes;
andern Theils ſei es ein höheres, die Darſtellung der
Geſammtheit
eines mannichfaltig gegliederten Organis¬
mus Bezweckendes. Man könnte alſo ſagen, es wiederhole
ſich hier am Stoffe ſelbſt der oben berührte Gegenſatz
von Stoff und Form noch einmal, indem die endloſe
Wiederholung der Urzelle in Millionen eigenleben¬
diger Monaden, oder Zellen, gleichſam den Stoff, das
Material des Organismus darſtellt, während die ver¬
ſchiedenartigen Modificationen
dieſer unendlichen
angehäuften Zellen nach dem höhern Schema unſerer
geſammten organiſchen Bildung erſt die Form, und da¬
durch — wie Ariſtoteles ganz richtig ſagt — „die Wirk¬
lichkeit der ganzen lebendigen Bildung
“ begründen.
Nicht bloß jedoch dieſe räumlich geſtaltenden Verhält¬
niſſe ſind hier wichtig zu beachten, ſondern eben ſo verdient
das Moment der Zeit unſere beſondere Aufmerkſamkeit.
Wäre nämlich die ſchaffende Thätigkeit dieſes Göttlichen in
uns, welches wir in ſeiner vollern Entwicklung mit dem
Namen der Seele bezeichnen, bloß eine ſchlagartig, nur
einmal wirkende, blitzartig erſcheinende und nicht in der
Zeit fortgehende, ſo unterſchiede ſie ſich in nichts von der
eigentlichen Kryſtalliſation oder der Geſtaltung eines Glie¬
des des Erdorganismus; aber ſie iſt in gewiſſem Maße
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[24/0040] Atmoſphäre bei verminderter Wärme die Idee einer ſechs¬ ſtrahligen Kryſtalliſation der Schneeflocke erſcheint, und wir erkennen alsbald: dieſes erſte bewußtloſe Wirken, es müſſe im Allgemeinen als ein zweifaches ſich kund geben; eines Theils nämlich erſcheine es als ein ſich in einer und derſelben Urgeſtaltung immerfort, ſo lange überhaupt ein Fortbilden des Organismus ſtattfindet, ſich raſtlos wiederholendes, ſich immer neu ſetzendes; andern Theils ſei es ein höheres, die Darſtellung der Geſammtheit eines mannichfaltig gegliederten Organis¬ mus Bezweckendes. Man könnte alſo ſagen, es wiederhole ſich hier am Stoffe ſelbſt der oben berührte Gegenſatz von Stoff und Form noch einmal, indem die endloſe Wiederholung der Urzelle in Millionen eigenleben¬ diger Monaden, oder Zellen, gleichſam den Stoff, das Material des Organismus darſtellt, während die ver¬ ſchiedenartigen Modificationen dieſer unendlichen angehäuften Zellen nach dem höhern Schema unſerer geſammten organiſchen Bildung erſt die Form, und da¬ durch — wie Ariſtoteles ganz richtig ſagt — „die Wirk¬ lichkeit der ganzen lebendigen Bildung“ begründen. Nicht bloß jedoch dieſe räumlich geſtaltenden Verhält¬ niſſe ſind hier wichtig zu beachten, ſondern eben ſo verdient das Moment der Zeit unſere beſondere Aufmerkſamkeit. Wäre nämlich die ſchaffende Thätigkeit dieſes Göttlichen in uns, welches wir in ſeiner vollern Entwicklung mit dem Namen der Seele bezeichnen, bloß eine ſchlagartig, nur einmal wirkende, blitzartig erſcheinende und nicht in der Zeit fortgehende, ſo unterſchiede ſie ſich in nichts von der eigentlichen Kryſtalliſation oder der Geſtaltung eines Glie¬ des des Erdorganismus; aber ſie iſt in gewiſſem Maße andauernd, ſie iſt umgeſtaltend, immer zerſtörend und neu bildend, ſie iſt ſomit auch eben durch dieſe Wiederholungen den Organismus erhaltend, und in dieſer unbewußten Offenbarung eines höhern Organismus tritt dadurch eine

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/40>, abgerufen am 19.04.2024.