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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Wahrheit, dieser Gedanke, doch war, wie der unbewußte
Embryo in der bewußten Mutter; ein Vorgang wegen dessen
eben Sokrates so oft das Entwickeln des Gedankens als
einen geburtshelferischen Akt angesehen wissen will. Alles
dieses deutet denn mit Bestimmtheit auf die reiche eigen¬
thümliche Welt, die wir dunkel in unserm Innern tragen,
und jedes Bedenken dieser Art muß uns sofort das merk¬
würdige Verhältniß zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein
deutlicher gestalten können. Ein noch helleres Licht kann
es übrigens hierauf werfen, wenn wir an das allmählige
Hervortreten angeborner besonderer Richtungen der bewußten
Seele denken wollen. Hier zeigt sich zugleich wie weit wir
in der Geschichte der Idee unseres Daseins zurückgehen --
und eben also in das Reich des unbewußten Daseins --
zurückgehen müssen, wenn wir zur Auffindung der ersten
Gründe
der Besonderheit dieses Daseins gelangen wollen.
Ich erinnere nämlich hier zuerst daran, wie viel ganz eigen¬
thümliche Züge auch des bewußten Seelenlebens sich von
Eltern auf Kinder fortpflanzen können, wie manche eigen¬
thümliche Richtungen des Geistes, manche besondere Nei¬
gungen, manche Kunstanlagen auf diese Weise das Eigen¬
thum von Personen werden, in welchen sie noch überdies
oft ziemlich spät erst wirklich hervortreten, obwohl sie der
Anlage nach von Haus aus in ihnen vorhanden sein mußten.
Jetzt mache man sich nun aber anschaulich, in welchem völlig
bewußtlosen Zustande die Seele sich befindet zu der Zeit,
wo in den ersten Bildungsperioden des Eies dergleichen
Uebertragungen allein möglich waren. Man mache sich
deutlich, wie hier in der Seele des Embryo, während sie
einzig und allein als bildende, entwickelnde, Stoffe heran¬
ziehende und Stoffe vertheilende Macht sich bethätigt, doch
unbewußter Weise alle jene später sich kund gebenden Geistes¬
richtungen des bewußten Lebens schon wirklich vorgebildet
sind! und man wird eins der merkwürdigsten und für die
Geschichte des Verhältnisses zwischen Bewußtsein und Un¬

Wahrheit, dieſer Gedanke, doch war, wie der unbewußte
Embryo in der bewußten Mutter; ein Vorgang wegen deſſen
eben Sokrates ſo oft das Entwickeln des Gedankens als
einen geburtshelferiſchen Akt angeſehen wiſſen will. Alles
dieſes deutet denn mit Beſtimmtheit auf die reiche eigen¬
thümliche Welt, die wir dunkel in unſerm Innern tragen,
und jedes Bedenken dieſer Art muß uns ſofort das merk¬
würdige Verhältniß zwiſchen Bewußtſein und Unbewußtſein
deutlicher geſtalten können. Ein noch helleres Licht kann
es übrigens hierauf werfen, wenn wir an das allmählige
Hervortreten angeborner beſonderer Richtungen der bewußten
Seele denken wollen. Hier zeigt ſich zugleich wie weit wir
in der Geſchichte der Idee unſeres Daſeins zurückgehen —
und eben alſo in das Reich des unbewußten Daſeins —
zurückgehen müſſen, wenn wir zur Auffindung der erſten
Gründe
der Beſonderheit dieſes Daſeins gelangen wollen.
Ich erinnere nämlich hier zuerſt daran, wie viel ganz eigen¬
thümliche Züge auch des bewußten Seelenlebens ſich von
Eltern auf Kinder fortpflanzen können, wie manche eigen¬
thümliche Richtungen des Geiſtes, manche beſondere Nei¬
gungen, manche Kunſtanlagen auf dieſe Weiſe das Eigen¬
thum von Perſonen werden, in welchen ſie noch überdies
oft ziemlich ſpät erſt wirklich hervortreten, obwohl ſie der
Anlage nach von Haus aus in ihnen vorhanden ſein mußten.
Jetzt mache man ſich nun aber anſchaulich, in welchem völlig
bewußtloſen Zuſtande die Seele ſich befindet zu der Zeit,
wo in den erſten Bildungsperioden des Eies dergleichen
Uebertragungen allein möglich waren. Man mache ſich
deutlich, wie hier in der Seele des Embryo, während ſie
einzig und allein als bildende, entwickelnde, Stoffe heran¬
ziehende und Stoffe vertheilende Macht ſich bethätigt, doch
unbewußter Weiſe alle jene ſpäter ſich kund gebenden Geiſtes¬
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[18/0034] Wahrheit, dieſer Gedanke, doch war, wie der unbewußte Embryo in der bewußten Mutter; ein Vorgang wegen deſſen eben Sokrates ſo oft das Entwickeln des Gedankens als einen geburtshelferiſchen Akt angeſehen wiſſen will. Alles dieſes deutet denn mit Beſtimmtheit auf die reiche eigen¬ thümliche Welt, die wir dunkel in unſerm Innern tragen, und jedes Bedenken dieſer Art muß uns ſofort das merk¬ würdige Verhältniß zwiſchen Bewußtſein und Unbewußtſein deutlicher geſtalten können. Ein noch helleres Licht kann es übrigens hierauf werfen, wenn wir an das allmählige Hervortreten angeborner beſonderer Richtungen der bewußten Seele denken wollen. Hier zeigt ſich zugleich wie weit wir in der Geſchichte der Idee unſeres Daſeins zurückgehen — und eben alſo in das Reich des unbewußten Daſeins — zurückgehen müſſen, wenn wir zur Auffindung der erſten Gründe der Beſonderheit dieſes Daſeins gelangen wollen. Ich erinnere nämlich hier zuerſt daran, wie viel ganz eigen¬ thümliche Züge auch des bewußten Seelenlebens ſich von Eltern auf Kinder fortpflanzen können, wie manche eigen¬ thümliche Richtungen des Geiſtes, manche beſondere Nei¬ gungen, manche Kunſtanlagen auf dieſe Weiſe das Eigen¬ thum von Perſonen werden, in welchen ſie noch überdies oft ziemlich ſpät erſt wirklich hervortreten, obwohl ſie der Anlage nach von Haus aus in ihnen vorhanden ſein mußten. Jetzt mache man ſich nun aber anſchaulich, in welchem völlig bewußtloſen Zuſtande die Seele ſich befindet zu der Zeit, wo in den erſten Bildungsperioden des Eies dergleichen Uebertragungen allein möglich waren. Man mache ſich deutlich, wie hier in der Seele des Embryo, während ſie einzig und allein als bildende, entwickelnde, Stoffe heran¬ ziehende und Stoffe vertheilende Macht ſich bethätigt, doch unbewußter Weiſe alle jene ſpäter ſich kund gebenden Geiſtes¬ richtungen des bewußten Lebens ſchon wirklich vorgebildet ſind! und man wird eins der merkwürdigſten und für die Geſchichte des Verhältniſſes zwiſchen Bewußtſein und Un¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/34>, abgerufen am 19.04.2024.