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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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es sich also von einem lebenden, d. h. sich aus sich selbst
entwickelnden, erhaltenden, ernährenden, bewegenden Wesen
handelt, wird allemal das durch jenes Göttliche, in dem
wir den Urgrund seines individuellen Daseins erkennen,
zunächst Bestimmte die Form sein. Die Formbestimmung
aber, welche Aristoteles mit Recht als die Wirklichkeit
des Gegenstandes bezeichnet, ist auch das was, obwohl
immerfort modificirt, im Wesentlichen allein durch jenes
Göttliche während des ganzen Lebens festgehalten wird und
bleibend erscheint, dahingegen der Stoff, das was Ari¬
stoteles die Möglichkeit nennt, in fortwährender Aende¬
rung ist und immer entweicht und immer von andern ersetzt
werden muß. Nennen wir also das Göttliche, welches
den Urgrund eines individuellen Daseins enthält, die Idee
oder die Seele; das Mögliche, an welchem diese Idee zur
Erscheinung kommt, den Stoff oder Aether, und sodann
die Wirklichkeit, als welche sie sich darlebt, die Form, so
haben wir allerdings drei Momente eines lebendigen
Daseins
, von welchen wir aber wohl bedenken müssen,
daß wir sie nur im Verstande als verschiedene zu unter¬
scheiden vermögen, daß wir aber eine objektive Trennung
nie und nirgends unter ihnen annehmen dürfen. Eine
Form ohne irgend einen Stoff und ohne irgend eine Idee,
wodurch sie bestimmt würde, ist ein Unding; ein Stoff,
der überhaupt da wäre, ohne in irgend einer Form da zu
sein, ist abermals ein Unding, und eine Idee, eine Seele,
welche nicht in irgend einer Form sich bethätigte, kann
überhaupt kein Dasein haben. Eben darum ist es als die
höchste Entwickelung der sich selbst erkennenden Idee zu
betrachten, daß sie fähig wird, diese Unterscheidungen,
welche doch an sich unmöglich sind, zu denken, und eben
darum liegt auch wieder in diesen Gedanken so viel Ge¬
fährliches, weil so leicht der Mensch verführt wird, ihm
irgend eine Realität doch wirklich zuzugestehen, in welchem
Falle jedoch alsbald dadurch nur eine abstruse und durch¬

es ſich alſo von einem lebenden, d. h. ſich aus ſich ſelbſt
entwickelnden, erhaltenden, ernährenden, bewegenden Weſen
handelt, wird allemal das durch jenes Göttliche, in dem
wir den Urgrund ſeines individuellen Daſeins erkennen,
zunächſt Beſtimmte die Form ſein. Die Formbeſtimmung
aber, welche Ariſtoteles mit Recht als die Wirklichkeit
des Gegenſtandes bezeichnet, iſt auch das was, obwohl
immerfort modificirt, im Weſentlichen allein durch jenes
Göttliche während des ganzen Lebens feſtgehalten wird und
bleibend erſcheint, dahingegen der Stoff, das was Ari¬
ſtoteles die Möglichkeit nennt, in fortwährender Aende¬
rung iſt und immer entweicht und immer von andern erſetzt
werden muß. Nennen wir alſo das Göttliche, welches
den Urgrund eines individuellen Daſeins enthält, die Idee
oder die Seele; das Mögliche, an welchem dieſe Idee zur
Erſcheinung kommt, den Stoff oder Aether, und ſodann
die Wirklichkeit, als welche ſie ſich darlebt, die Form, ſo
haben wir allerdings drei Momente eines lebendigen
Daſeins
, von welchen wir aber wohl bedenken müſſen,
daß wir ſie nur im Verſtande als verſchiedene zu unter¬
ſcheiden vermögen, daß wir aber eine objektive Trennung
nie und nirgends unter ihnen annehmen dürfen. Eine
Form ohne irgend einen Stoff und ohne irgend eine Idee,
wodurch ſie beſtimmt würde, iſt ein Unding; ein Stoff,
der überhaupt da wäre, ohne in irgend einer Form da zu
ſein, iſt abermals ein Unding, und eine Idee, eine Seele,
welche nicht in irgend einer Form ſich bethätigte, kann
überhaupt kein Daſein haben. Eben darum iſt es als die
höchſte Entwickelung der ſich ſelbſt erkennenden Idee zu
betrachten, daß ſie fähig wird, dieſe Unterſcheidungen,
welche doch an ſich unmöglich ſind, zu denken, und eben
darum liegt auch wieder in dieſen Gedanken ſo viel Ge¬
fährliches, weil ſo leicht der Menſch verführt wird, ihm
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[10/0026] es ſich alſo von einem lebenden, d. h. ſich aus ſich ſelbſt entwickelnden, erhaltenden, ernährenden, bewegenden Weſen handelt, wird allemal das durch jenes Göttliche, in dem wir den Urgrund ſeines individuellen Daſeins erkennen, zunächſt Beſtimmte die Form ſein. Die Formbeſtimmung aber, welche Ariſtoteles mit Recht als die Wirklichkeit des Gegenſtandes bezeichnet, iſt auch das was, obwohl immerfort modificirt, im Weſentlichen allein durch jenes Göttliche während des ganzen Lebens feſtgehalten wird und bleibend erſcheint, dahingegen der Stoff, das was Ari¬ ſtoteles die Möglichkeit nennt, in fortwährender Aende¬ rung iſt und immer entweicht und immer von andern erſetzt werden muß. Nennen wir alſo das Göttliche, welches den Urgrund eines individuellen Daſeins enthält, die Idee oder die Seele; das Mögliche, an welchem dieſe Idee zur Erſcheinung kommt, den Stoff oder Aether, und ſodann die Wirklichkeit, als welche ſie ſich darlebt, die Form, ſo haben wir allerdings drei Momente eines lebendigen Daſeins, von welchen wir aber wohl bedenken müſſen, daß wir ſie nur im Verſtande als verſchiedene zu unter¬ ſcheiden vermögen, daß wir aber eine objektive Trennung nie und nirgends unter ihnen annehmen dürfen. Eine Form ohne irgend einen Stoff und ohne irgend eine Idee, wodurch ſie beſtimmt würde, iſt ein Unding; ein Stoff, der überhaupt da wäre, ohne in irgend einer Form da zu ſein, iſt abermals ein Unding, und eine Idee, eine Seele, welche nicht in irgend einer Form ſich bethätigte, kann überhaupt kein Daſein haben. Eben darum iſt es als die höchſte Entwickelung der ſich ſelbſt erkennenden Idee zu betrachten, daß ſie fähig wird, dieſe Unterſcheidungen, welche doch an ſich unmöglich ſind, zu denken, und eben darum liegt auch wieder in dieſen Gedanken ſo viel Ge¬ fährliches, weil ſo leicht der Menſch verführt wird, ihm irgend eine Realität doch wirklich zuzugeſtehen, in welchem Falle jedoch alsbald dadurch nur eine abſtruſe und durch¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/26>, abgerufen am 28.03.2024.