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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Späterhin, wenn der merkwürdige Kreislauf des Vorstel¬
lungslebens zur Besprechung kommen wird, den ich im
3. Bande meines Systems der Physiologie zuerst in die
Lehren der Psychologie eingeführt habe, werden wir erken¬
nen, daß man in dieser Beziehung das Leben der Seele
vergleichen dürfe mit einem unablässig fortkreisenden großen
Strome, welcher nur an einer einzigen kleinen Stelle vom
Sonnenlicht -- d. i. eben vom Bewußtsein -- erleuchtet
ist. Schon dadurch also, daß der größte Theil der Ge¬
danken unseres Bewußtseins immer wieder im Unbewußt¬
sein untergeht und nur zeitweise und einzeln wieder in's
Bewußtsein treten kann, ist das unbewußte Seelenleben als
Basis des bewußten charakterisirt. Aber das Verhältniß
geht noch weit tiefer. Alles Seelenleben, die gesammte
Welt unseres innersten geistigen Daseins, die wir sehr
wohl in unserem Bewußtsein von allem Aeußerlichen unter¬
scheiden, sie ruht auf dem Bewußtlosen und bildet sich nur
aus diesem hervor. Der Mensch, als Individuum, lebt
nämlich in drei ganz wesentlich verschiedenen Zuständen
sein Leben:

1, als nur mikroskopisch wahrnehmbares, aus concen¬
trischen Hüllen bestehendes Ei,
2, als innen im Ei Keimendes, d. i. Embryo, und
3, als eigentlicher Mensch.

Das erste ist das ganz gebundene (latente) Dasein
eines dem gesunden mütterlichen Organismus in seinen
verborgensten Tiefen von der Geburt an mitgegebenen
Keims -- so noch untrennbar vom mütterlichen Leben, so
ohne alle wahrnehmbare Lebensveränderungen mehrere De¬
cennien hindurch immer nur sich selbst gleich, und so natürlich
auch ohne die mindeste Spur höherer seelischen Lebensäuße¬
rungen. Hierauf, geweckt von eigenthümlichen Lebensein¬
wirkungen einer im Gegensatze der mütterlichen stehenden
männlichen Seele, hebt die zweite Lebensperiode des
werdenden Kindes im Schoße der Mutter an. Nach den

Späterhin, wenn der merkwürdige Kreislauf des Vorſtel¬
lungslebens zur Beſprechung kommen wird, den ich im
3. Bande meines Syſtems der Phyſiologie zuerſt in die
Lehren der Pſychologie eingeführt habe, werden wir erken¬
nen, daß man in dieſer Beziehung das Leben der Seele
vergleichen dürfe mit einem unabläſſig fortkreiſenden großen
Strome, welcher nur an einer einzigen kleinen Stelle vom
Sonnenlicht — d. i. eben vom Bewußtſein — erleuchtet
iſt. Schon dadurch alſo, daß der größte Theil der Ge¬
danken unſeres Bewußtſeins immer wieder im Unbewußt¬
ſein untergeht und nur zeitweiſe und einzeln wieder in's
Bewußtſein treten kann, iſt das unbewußte Seelenleben als
Baſis des bewußten charakteriſirt. Aber das Verhältniß
geht noch weit tiefer. Alles Seelenleben, die geſammte
Welt unſeres innerſten geiſtigen Daſeins, die wir ſehr
wohl in unſerem Bewußtſein von allem Aeußerlichen unter¬
ſcheiden, ſie ruht auf dem Bewußtloſen und bildet ſich nur
aus dieſem hervor. Der Menſch, als Individuum, lebt
nämlich in drei ganz weſentlich verſchiedenen Zuſtänden
ſein Leben:

1, als nur mikroſkopiſch wahrnehmbares, aus concen¬
triſchen Hüllen beſtehendes Ei,
2, als innen im Ei Keimendes, d. i. Embryo, und
3, als eigentlicher Menſch.

Das erſte iſt das ganz gebundene (latente) Daſein
eines dem geſunden mütterlichen Organismus in ſeinen
verborgenſten Tiefen von der Geburt an mitgegebenen
Keims — ſo noch untrennbar vom mütterlichen Leben, ſo
ohne alle wahrnehmbare Lebensveränderungen mehrere De¬
cennien hindurch immer nur ſich ſelbſt gleich, und ſo natürlich
auch ohne die mindeſte Spur höherer ſeeliſchen Lebensäuße¬
rungen. Hierauf, geweckt von eigenthümlichen Lebensein¬
wirkungen einer im Gegenſatze der mütterlichen ſtehenden
männlichen Seele, hebt die zweite Lebensperiode des
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[2/0018] Späterhin, wenn der merkwürdige Kreislauf des Vorſtel¬ lungslebens zur Beſprechung kommen wird, den ich im 3. Bande meines Syſtems der Phyſiologie zuerſt in die Lehren der Pſychologie eingeführt habe, werden wir erken¬ nen, daß man in dieſer Beziehung das Leben der Seele vergleichen dürfe mit einem unabläſſig fortkreiſenden großen Strome, welcher nur an einer einzigen kleinen Stelle vom Sonnenlicht — d. i. eben vom Bewußtſein — erleuchtet iſt. Schon dadurch alſo, daß der größte Theil der Ge¬ danken unſeres Bewußtſeins immer wieder im Unbewußt¬ ſein untergeht und nur zeitweiſe und einzeln wieder in's Bewußtſein treten kann, iſt das unbewußte Seelenleben als Baſis des bewußten charakteriſirt. Aber das Verhältniß geht noch weit tiefer. Alles Seelenleben, die geſammte Welt unſeres innerſten geiſtigen Daſeins, die wir ſehr wohl in unſerem Bewußtſein von allem Aeußerlichen unter¬ ſcheiden, ſie ruht auf dem Bewußtloſen und bildet ſich nur aus dieſem hervor. Der Menſch, als Individuum, lebt nämlich in drei ganz weſentlich verſchiedenen Zuſtänden ſein Leben: 1, als nur mikroſkopiſch wahrnehmbares, aus concen¬ triſchen Hüllen beſtehendes Ei, 2, als innen im Ei Keimendes, d. i. Embryo, und 3, als eigentlicher Menſch. Das erſte iſt das ganz gebundene (latente) Daſein eines dem geſunden mütterlichen Organismus in ſeinen verborgenſten Tiefen von der Geburt an mitgegebenen Keims — ſo noch untrennbar vom mütterlichen Leben, ſo ohne alle wahrnehmbare Lebensveränderungen mehrere De¬ cennien hindurch immer nur ſich ſelbſt gleich, und ſo natürlich auch ohne die mindeſte Spur höherer ſeeliſchen Lebensäuße¬ rungen. Hierauf, geweckt von eigenthümlichen Lebensein¬ wirkungen einer im Gegenſatze der mütterlichen ſtehenden männlichen Seele, hebt die zweite Lebensperiode des werdenden Kindes im Schoße der Mutter an. Nach den

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/18>, abgerufen am 23.04.2024.