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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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welche gelernt hat, die Welt als einen großen moralischen6. Abschnitt.
und physischen Kosmos zu betrachten. Während die Men-
schen des Mittelalters die Welt ansehen als ein Jammerthal,
welches Papst und Kaiser hüten müssen bis zum Auftreten
des Antichrist, während die Fatalisten der Renaissance ab-
wechseln zwischen Zeiten der Energie und Zeiten der dumpfen
Resignation oder des Aberglaubens, erhebt sich hier, im
Kreise 1) auserwählter Geister, die Idee, daß die sichtbare
Welt von Gott aus Liebe geschaffen, daß sie ein Abbild des
in ihm präexistirenden Vorbildes sei, und daß er ihr dauernder
Beweger und Fortschöpfer bleiben werde. Die Seele des
Einzelnen kann zunächst durch das Erkennen Gottes ihn
in ihre engen Schranken zusammenziehen, aber auch durch
Liebe zu ihm sich ins Unendliche ausdehnen, und dieß ist
dann die Seligkeit auf Erden.

Hier berühren sich Anklänge der mittelalterlichen Mystik
mit platonischen Lehren und mit einem eigenthümlichen mo-
dernen Geiste. Vielleicht reifte hier eine höchste Frucht jener
Erkenntniß der Welt und des Menschen, um derentwillen
allein schon die Renaissance von Italien die Führerin unseres
Weltalters heißen muß.



1) Wenn es dem Pulci in seinem Morgante irgendwo mit religiösen
Dingen Ernst ist, so wird dieß von Ges. XVI, Str. 6 gelten; diese
deistische Rede der schönen Heidin Antea ist vielleicht der greifbarste
Ausdruck der Denkweise, welche unter Lorenzo's Genossen herrschte;
jedenfalls zuverlässiger als die oben (S. 499, 503, Anm.) citirten
Reden des Dämons Astarotte.
Cultur der Renaissance. 36

welche gelernt hat, die Welt als einen großen moraliſchen6. Abſchnitt.
und phyſiſchen Kosmos zu betrachten. Während die Men-
ſchen des Mittelalters die Welt anſehen als ein Jammerthal,
welches Papſt und Kaiſer hüten müſſen bis zum Auftreten
des Antichriſt, während die Fataliſten der Renaiſſance ab-
wechſeln zwiſchen Zeiten der Energie und Zeiten der dumpfen
Reſignation oder des Aberglaubens, erhebt ſich hier, im
Kreiſe 1) auserwählter Geiſter, die Idee, daß die ſichtbare
Welt von Gott aus Liebe geſchaffen, daß ſie ein Abbild des
in ihm präexiſtirenden Vorbildes ſei, und daß er ihr dauernder
Beweger und Fortſchöpfer bleiben werde. Die Seele des
Einzelnen kann zunächſt durch das Erkennen Gottes ihn
in ihre engen Schranken zuſammenziehen, aber auch durch
Liebe zu ihm ſich ins Unendliche ausdehnen, und dieß iſt
dann die Seligkeit auf Erden.

Hier berühren ſich Anklänge der mittelalterlichen Myſtik
mit platoniſchen Lehren und mit einem eigenthümlichen mo-
dernen Geiſte. Vielleicht reifte hier eine höchſte Frucht jener
Erkenntniß der Welt und des Menſchen, um derentwillen
allein ſchon die Renaiſſance von Italien die Führerin unſeres
Weltalters heißen muß.



1) Wenn es dem Pulci in ſeinem Morgante irgendwo mit religiöſen
Dingen Ernſt iſt, ſo wird dieß von Geſ. XVI, Str. 6 gelten; dieſe
deiſtiſche Rede der ſchönen Heidin Antea iſt vielleicht der greifbarſte
Ausdruck der Denkweiſe, welche unter Lorenzo's Genoſſen herrſchte;
jedenfalls zuverläſſiger als die oben (S. 499, 503, Anm.) citirten
Reden des Dämons Aſtarotte.
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[561/0571] welche gelernt hat, die Welt als einen großen moraliſchen und phyſiſchen Kosmos zu betrachten. Während die Men- ſchen des Mittelalters die Welt anſehen als ein Jammerthal, welches Papſt und Kaiſer hüten müſſen bis zum Auftreten des Antichriſt, während die Fataliſten der Renaiſſance ab- wechſeln zwiſchen Zeiten der Energie und Zeiten der dumpfen Reſignation oder des Aberglaubens, erhebt ſich hier, im Kreiſe 1) auserwählter Geiſter, die Idee, daß die ſichtbare Welt von Gott aus Liebe geſchaffen, daß ſie ein Abbild des in ihm präexiſtirenden Vorbildes ſei, und daß er ihr dauernder Beweger und Fortſchöpfer bleiben werde. Die Seele des Einzelnen kann zunächſt durch das Erkennen Gottes ihn in ihre engen Schranken zuſammenziehen, aber auch durch Liebe zu ihm ſich ins Unendliche ausdehnen, und dieß iſt dann die Seligkeit auf Erden. 6. Abſchnitt. Hier berühren ſich Anklänge der mittelalterlichen Myſtik mit platoniſchen Lehren und mit einem eigenthümlichen mo- dernen Geiſte. Vielleicht reifte hier eine höchſte Frucht jener Erkenntniß der Welt und des Menſchen, um derentwillen allein ſchon die Renaiſſance von Italien die Führerin unſeres Weltalters heißen muß. 1) Wenn es dem Pulci in ſeinem Morgante irgendwo mit religiöſen Dingen Ernſt iſt, ſo wird dieß von Geſ. XVI, Str. 6 gelten; dieſe deiſtiſche Rede der ſchönen Heidin Antea iſt vielleicht der greifbarſte Ausdruck der Denkweiſe, welche unter Lorenzo's Genoſſen herrſchte; jedenfalls zuverläſſiger als die oben (S. 499, 503, Anm.) citirten Reden des Dämons Aſtarotte. Cultur der Renaiſſance. 36

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/571>, abgerufen am 19.04.2024.