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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.dings sich auf sittlich indifferente Angelegenheiten, auf bloß
Unkluges und Unzweckmäßiges beziehen, aber von selbst wird
sich diese Verachtung der Reue auch auf das sittliche Ge-
biet ausdehnen, weil ihre Quelle eine allgemeine, nämlich
das individuelle Kraftgefühl ist. Das passive und contem-
plative Christenthum mit seiner beständigen Beziehung auf
eine jenseitige höhere Welt beherrschte diese Menschen nicht
mehr. Macchiavell wagt dann die weitere Consequenz:
dasselbe könne auch dem Staat und der Vertheidigung von
dessen Freiheit nicht förderlich sein 1).

Deismus und
Theismus.
Welche Gestalt mußte nun die trotz Allem vorhandene
starke Religiosität bei den tiefern Naturen annehmen? Es
ist der Theismus oder Deismus, wie man will. Den letz-
tern Namen mag diejenige Denkweise führen, welche das
Christliche abgestreift hat, ohne einen weitern Ersatz für
das Gefühl zu suchen oder zu finden. Theismus aber er-
kennen wir in der erhöhten positiven Andacht zum göttlichen
Wesen, welche das Mittelalter nicht gekannt hatte. Die-
selbe schließt das Christenthum nicht aus und kann sich
jederzeit mit dessen Lehre von der Sünde, Erlösung und
Unsterblichkeit verbinden, aber sie ist auch ohne dasselbe in
den Gemüthern vorhanden.

Bisweilen tritt sie mit kindlicher Naivetät, ja mit
einem halbheidnischen Anklang auf; Gott erscheint ihr als
der allmächtige Erfüller der Wünsche. Agnolo Pandolfini
erzählt 2), wie er nach der Hochzeit sich mit seiner Gemahlin
einschloß und vor dem Hausaltar mit dem Marienbilde
Das theistische
Gebet.
niederkniete, worauf sie aber nicht zur Madonna sondern zu
Gott beteten, er möge ihnen verleihen die richtige Benützung
ihrer Güter, langes Zusammenleben in Fröhlichkeit und
Eintracht, und viele männliche Nachkommen; "für mich
betete ich um Reichthum, Freundschaften und Ehre, für sie

1) Discorsi, L. II, cap. 2.
2) Del governo della famiglia, p. 114.

6. Abſchnitt.dings ſich auf ſittlich indifferente Angelegenheiten, auf bloß
Unkluges und Unzweckmäßiges beziehen, aber von ſelbſt wird
ſich dieſe Verachtung der Reue auch auf das ſittliche Ge-
biet ausdehnen, weil ihre Quelle eine allgemeine, nämlich
das individuelle Kraftgefühl iſt. Das paſſive und contem-
plative Chriſtenthum mit ſeiner beſtändigen Beziehung auf
eine jenſeitige höhere Welt beherrſchte dieſe Menſchen nicht
mehr. Macchiavell wagt dann die weitere Conſequenz:
daſſelbe könne auch dem Staat und der Vertheidigung von
deſſen Freiheit nicht förderlich ſein 1).

Deismus und
Theismus.
Welche Geſtalt mußte nun die trotz Allem vorhandene
ſtarke Religioſität bei den tiefern Naturen annehmen? Es
iſt der Theismus oder Deismus, wie man will. Den letz-
tern Namen mag diejenige Denkweiſe führen, welche das
Chriſtliche abgeſtreift hat, ohne einen weitern Erſatz für
das Gefühl zu ſuchen oder zu finden. Theismus aber er-
kennen wir in der erhöhten poſitiven Andacht zum göttlichen
Weſen, welche das Mittelalter nicht gekannt hatte. Die-
ſelbe ſchließt das Chriſtenthum nicht aus und kann ſich
jederzeit mit deſſen Lehre von der Sünde, Erlöſung und
Unſterblichkeit verbinden, aber ſie iſt auch ohne daſſelbe in
den Gemüthern vorhanden.

Bisweilen tritt ſie mit kindlicher Naivetät, ja mit
einem halbheidniſchen Anklang auf; Gott erſcheint ihr als
der allmächtige Erfüller der Wünſche. Agnolo Pandolfini
erzählt 2), wie er nach der Hochzeit ſich mit ſeiner Gemahlin
einſchloß und vor dem Hausaltar mit dem Marienbilde
Das theiſtiſche
Gebet.
niederkniete, worauf ſie aber nicht zur Madonna ſondern zu
Gott beteten, er möge ihnen verleihen die richtige Benützung
ihrer Güter, langes Zuſammenleben in Fröhlichkeit und
Eintracht, und viele männliche Nachkommen; „für mich
betete ich um Reichthum, Freundſchaften und Ehre, für ſie

1) Discorsi, L. II, cap. 2.
2) Del governo della famiglia, p. 114.
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[558/0568] dings ſich auf ſittlich indifferente Angelegenheiten, auf bloß Unkluges und Unzweckmäßiges beziehen, aber von ſelbſt wird ſich dieſe Verachtung der Reue auch auf das ſittliche Ge- biet ausdehnen, weil ihre Quelle eine allgemeine, nämlich das individuelle Kraftgefühl iſt. Das paſſive und contem- plative Chriſtenthum mit ſeiner beſtändigen Beziehung auf eine jenſeitige höhere Welt beherrſchte dieſe Menſchen nicht mehr. Macchiavell wagt dann die weitere Conſequenz: daſſelbe könne auch dem Staat und der Vertheidigung von deſſen Freiheit nicht förderlich ſein 1). 6. Abſchnitt. Welche Geſtalt mußte nun die trotz Allem vorhandene ſtarke Religioſität bei den tiefern Naturen annehmen? Es iſt der Theismus oder Deismus, wie man will. Den letz- tern Namen mag diejenige Denkweiſe führen, welche das Chriſtliche abgeſtreift hat, ohne einen weitern Erſatz für das Gefühl zu ſuchen oder zu finden. Theismus aber er- kennen wir in der erhöhten poſitiven Andacht zum göttlichen Weſen, welche das Mittelalter nicht gekannt hatte. Die- ſelbe ſchließt das Chriſtenthum nicht aus und kann ſich jederzeit mit deſſen Lehre von der Sünde, Erlöſung und Unſterblichkeit verbinden, aber ſie iſt auch ohne daſſelbe in den Gemüthern vorhanden. Deismus und Theismus. Bisweilen tritt ſie mit kindlicher Naivetät, ja mit einem halbheidniſchen Anklang auf; Gott erſcheint ihr als der allmächtige Erfüller der Wünſche. Agnolo Pandolfini erzählt 2), wie er nach der Hochzeit ſich mit ſeiner Gemahlin einſchloß und vor dem Hausaltar mit dem Marienbilde niederkniete, worauf ſie aber nicht zur Madonna ſondern zu Gott beteten, er möge ihnen verleihen die richtige Benützung ihrer Güter, langes Zuſammenleben in Fröhlichkeit und Eintracht, und viele männliche Nachkommen; „für mich betete ich um Reichthum, Freundſchaften und Ehre, für ſie Das theiſtiſche Gebet. 1) Discorsi, L. II, cap. 2. 2) Del governo della famiglia, p. 114.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/568>, abgerufen am 28.03.2024.