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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.Chiromantie 1), u. s. w., welche erst mit dem Sinken des
Beschwörungsglaubens und der Astrologie einigermaßen zu
Kräften kamen, dürfen wir hier völlig übergehen, und selbst
Physiognomik.die auftauchende Physiognomik hat lange nicht das Interesse,
das man bei Nennung dieses Namens voraussetzen sollte.
Sie erscheint nämlich nicht als Schwester und Freundin der
bildenden Kunst und der practischen Psychologie, sondern
wesentlich als eine neue Gattung fatalistischen Wahnes, als
ausdrückliche Rivalin der Sterndeuterei, was sie wohl schon
bei den Arabern gewesen sein mag. Bartolommeo Cocle
z. B., der Verfasser eines physiognomischen Lehrbuches, der
sich einen Metoposcopen nannte 2), und dessen Wissenschaft,
nach Giovio's Ausdruck, schon wie eine der vornehmsten
freien Künste aussah, begnügte sich nicht mit Weissagungen
an die klügsten Leute, die ihn täglich zu Rathe zogen, son-
dern er schrieb auch ein höchst bedenkliches "Verzeichniß
Solcher, welchen verschiedene große Lebensgefahren bevor-
ständen". Giovio, obwohl gealtert in der Aufklärung
Roms -- in hac luce romana! -- findet doch, daß sich
die darin enthaltenen Weissagungen nur zu sehr erwahrt
hätten 3). Freilich erfährt man bei dieser Gelegenheit auch,
wie die von diesen und ähnlichen Voraussagungen Betrof-
Schicksale der
Wahrsager.
fenen sich an den Propheten rächten; Giovanni Bentivoglio
ließ den Lucas Gauricus an einem Seil, das von einer
hohen Wendeltreppe herabhing, fünfmal hin und her an
die Wand schmeißen, weil Lucas ihm 4) den Verlust seiner
Herrschaft vorhersagte; Ermes Bentivoglio sandte dem Cocle

1) Diesen unter den Soldaten stark verbreiteten Aberglauben (um 1520)
verspottet Limerno Pitocco, im Orlandino, cap. V, Str. 60.
2) Paul. Jov. Elog. lit. sub voce Cocles.
3) Aus Giovio spricht hier vernehmlich der begeisterte Porträtsammler.
4) Und zwar aus den Sternen, denn Gauricus kannte die Physiognomik
nicht; für sein eigenes Schicksal aber war er auf die Weissagung
des Cocle angewiesen, da sein Vater versäumt hatte, sein Horoscop
zu notiren.

6. Abſchnitt.Chiromantie 1), u. ſ. w., welche erſt mit dem Sinken des
Beſchwörungsglaubens und der Aſtrologie einigermaßen zu
Kräften kamen, dürfen wir hier völlig übergehen, und ſelbſt
Phyſiognomik.die auftauchende Phyſiognomik hat lange nicht das Intereſſe,
das man bei Nennung dieſes Namens vorausſetzen ſollte.
Sie erſcheint nämlich nicht als Schweſter und Freundin der
bildenden Kunſt und der practiſchen Pſychologie, ſondern
weſentlich als eine neue Gattung fataliſtiſchen Wahnes, als
ausdrückliche Rivalin der Sterndeuterei, was ſie wohl ſchon
bei den Arabern geweſen ſein mag. Bartolommeo Cocle
z. B., der Verfaſſer eines phyſiognomiſchen Lehrbuches, der
ſich einen Metopoſcopen nannte 2), und deſſen Wiſſenſchaft,
nach Giovio's Ausdruck, ſchon wie eine der vornehmſten
freien Künſte ausſah, begnügte ſich nicht mit Weiſſagungen
an die klügſten Leute, die ihn täglich zu Rathe zogen, ſon-
dern er ſchrieb auch ein höchſt bedenkliches „Verzeichniß
Solcher, welchen verſchiedene große Lebensgefahren bevor-
ſtänden“. Giovio, obwohl gealtert in der Aufklärung
Roms — in hac luce romana! — findet doch, daß ſich
die darin enthaltenen Weiſſagungen nur zu ſehr erwahrt
hätten 3). Freilich erfährt man bei dieſer Gelegenheit auch,
wie die von dieſen und ähnlichen Vorausſagungen Betrof-
Schickſale der
Wahrſager.
fenen ſich an den Propheten rächten; Giovanni Bentivoglio
ließ den Lucas Gauricus an einem Seil, das von einer
hohen Wendeltreppe herabhing, fünfmal hin und her an
die Wand ſchmeißen, weil Lucas ihm 4) den Verluſt ſeiner
Herrſchaft vorherſagte; Ermes Bentivoglio ſandte dem Cocle

1) Dieſen unter den Soldaten ſtark verbreiteten Aberglauben (um 1520)
verſpottet Limerno Pitocco, im Orlandino, cap. V, Str. 60.
2) Paul. Jov. Elog. lit. sub voce Cocles.
3) Aus Giovio ſpricht hier vernehmlich der begeiſterte Porträtſammler.
4) Und zwar aus den Sternen, denn Gauricus kannte die Phyſiognomik
nicht; für ſein eigenes Schickſal aber war er auf die Weiſſagung
des Cocle angewieſen, da ſein Vater verſäumt hatte, ſein Horoscop
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[548/0558] Chiromantie 1), u. ſ. w., welche erſt mit dem Sinken des Beſchwörungsglaubens und der Aſtrologie einigermaßen zu Kräften kamen, dürfen wir hier völlig übergehen, und ſelbſt die auftauchende Phyſiognomik hat lange nicht das Intereſſe, das man bei Nennung dieſes Namens vorausſetzen ſollte. Sie erſcheint nämlich nicht als Schweſter und Freundin der bildenden Kunſt und der practiſchen Pſychologie, ſondern weſentlich als eine neue Gattung fataliſtiſchen Wahnes, als ausdrückliche Rivalin der Sterndeuterei, was ſie wohl ſchon bei den Arabern geweſen ſein mag. Bartolommeo Cocle z. B., der Verfaſſer eines phyſiognomiſchen Lehrbuches, der ſich einen Metopoſcopen nannte 2), und deſſen Wiſſenſchaft, nach Giovio's Ausdruck, ſchon wie eine der vornehmſten freien Künſte ausſah, begnügte ſich nicht mit Weiſſagungen an die klügſten Leute, die ihn täglich zu Rathe zogen, ſon- dern er ſchrieb auch ein höchſt bedenkliches „Verzeichniß Solcher, welchen verſchiedene große Lebensgefahren bevor- ſtänden“. Giovio, obwohl gealtert in der Aufklärung Roms — in hac luce romana! — findet doch, daß ſich die darin enthaltenen Weiſſagungen nur zu ſehr erwahrt hätten 3). Freilich erfährt man bei dieſer Gelegenheit auch, wie die von dieſen und ähnlichen Vorausſagungen Betrof- fenen ſich an den Propheten rächten; Giovanni Bentivoglio ließ den Lucas Gauricus an einem Seil, das von einer hohen Wendeltreppe herabhing, fünfmal hin und her an die Wand ſchmeißen, weil Lucas ihm 4) den Verluſt ſeiner Herrſchaft vorherſagte; Ermes Bentivoglio ſandte dem Cocle 6. Abſchnitt. Phyſiognomik. Schickſale der Wahrſager. 1) Dieſen unter den Soldaten ſtark verbreiteten Aberglauben (um 1520) verſpottet Limerno Pitocco, im Orlandino, cap. V, Str. 60. 2) Paul. Jov. Elog. lit. sub voce Cocles. 3) Aus Giovio ſpricht hier vernehmlich der begeiſterte Porträtſammler. 4) Und zwar aus den Sternen, denn Gauricus kannte die Phyſiognomik nicht; für ſein eigenes Schickſal aber war er auf die Weiſſagung des Cocle angewieſen, da ſein Vater verſäumt hatte, ſein Horoscop zu notiren.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/558>, abgerufen am 29.03.2024.