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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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und die folgenden Italiener blieben, versteht sich von4. Abschnitt.
selbst, aber die Quelle des Gefühls sprudelt mächtig genug
in ihrem Innern. Wer sie nach dieser Seite hin mit ihren
außeritalischen Zeitgenossen vergleicht, wird in ihnen den
frühsten vollständigen Ausdruck der modernen europäischen
Gefühlswelt überhaupt erkennen. Es handelt sich hier
durchaus nicht darum zu wissen, ob ausgezeichnete Menschen
anderer Nationen nicht ebenso tief und schön empfunden
haben, sondern wer zuerst die reichste Kenntniß der Seelen-
regungen urkundlich erwiesen hat.

Warum haben aber die Italiener der Renaissance inMangel der
Tragödie.

der Tragödie nur Untergeordnetes geleistet? Dort war die
Stelle, Character, Geist und Leidenschaft tausendgestaltig im
Wachsen, Kämpfen und Unterliegen der Menschen zur An-
schauung zu bringen. Mit andern Worten: warum hat
Italien keinen Shakspeare hervorgebracht? -- denn dem
übrigen nordischen Theater des XVI., XVII. Jahrhunderts
möchten die Italiener wohl gewachsen sein, und mit dem
spanischen konnten sie nicht concurriren weil sie keinen reli-
giösen Fanatismus empfanden, den abstracten Ehrenpunct
nur pro forma mitmachten, und ihr tyrannisches, illegitimes
Fürstenthum als solches anzubeten und zu verklären zu klug
und zu stolz waren 1). Es handelt sich also einzig nur um
die kurze Blüthezeit des englischen Theaters.

Hierauf ließe sich erwiedern, daß das ganze übrige
Europa auch nur Einen Shakspeare hervorgebracht hat und
daß ein solcher Genius überhaupt ein seltenes Geschenk des
Himmels ist. Ferner könnte möglicherweise eine hohe Blüthe
des italienischen Theaters im Anzuge gewesen sein, als die

und dazu halbasiatischen Beleg enthält. (Abgedruckt u. a. als Bei-
lage zu den cento novelle antiche.)
1) Dem einzelnen Hofe oder Fürsten allerdings wurde von den Gele-
genheitsdramatikern hinlänglich geschmeichelt.

und die folgenden Italiener blieben, verſteht ſich von4. Abſchnitt.
ſelbſt, aber die Quelle des Gefühls ſprudelt mächtig genug
in ihrem Innern. Wer ſie nach dieſer Seite hin mit ihren
außeritaliſchen Zeitgenoſſen vergleicht, wird in ihnen den
frühſten vollſtändigen Ausdruck der modernen europäiſchen
Gefühlswelt überhaupt erkennen. Es handelt ſich hier
durchaus nicht darum zu wiſſen, ob ausgezeichnete Menſchen
anderer Nationen nicht ebenſo tief und ſchön empfunden
haben, ſondern wer zuerſt die reichſte Kenntniß der Seelen-
regungen urkundlich erwieſen hat.

Warum haben aber die Italiener der Renaiſſance inMangel der
Tragödie.

der Tragödie nur Untergeordnetes geleiſtet? Dort war die
Stelle, Character, Geiſt und Leidenſchaft tauſendgeſtaltig im
Wachſen, Kämpfen und Unterliegen der Menſchen zur An-
ſchauung zu bringen. Mit andern Worten: warum hat
Italien keinen Shakspeare hervorgebracht? — denn dem
übrigen nordiſchen Theater des XVI., XVII. Jahrhunderts
möchten die Italiener wohl gewachſen ſein, und mit dem
ſpaniſchen konnten ſie nicht concurriren weil ſie keinen reli-
giöſen Fanatismus empfanden, den abſtracten Ehrenpunct
nur pro forma mitmachten, und ihr tyranniſches, illegitimes
Fürſtenthum als ſolches anzubeten und zu verklären zu klug
und zu ſtolz waren 1). Es handelt ſich alſo einzig nur um
die kurze Blüthezeit des engliſchen Theaters.

Hierauf ließe ſich erwiedern, daß das ganze übrige
Europa auch nur Einen Shakspeare hervorgebracht hat und
daß ein ſolcher Genius überhaupt ein ſeltenes Geſchenk des
Himmels iſt. Ferner könnte möglicherweiſe eine hohe Blüthe
des italieniſchen Theaters im Anzuge geweſen ſein, als die

und dazu halbaſiatiſchen Beleg enthält. (Abgedruckt u. a. als Bei-
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1) Dem einzelnen Hofe oder Fürſten allerdings wurde von den Gele-
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[313/0323] und die folgenden Italiener blieben, verſteht ſich von ſelbſt, aber die Quelle des Gefühls ſprudelt mächtig genug in ihrem Innern. Wer ſie nach dieſer Seite hin mit ihren außeritaliſchen Zeitgenoſſen vergleicht, wird in ihnen den frühſten vollſtändigen Ausdruck der modernen europäiſchen Gefühlswelt überhaupt erkennen. Es handelt ſich hier durchaus nicht darum zu wiſſen, ob ausgezeichnete Menſchen anderer Nationen nicht ebenſo tief und ſchön empfunden haben, ſondern wer zuerſt die reichſte Kenntniß der Seelen- regungen urkundlich erwieſen hat. 4. Abſchnitt. Warum haben aber die Italiener der Renaiſſance in der Tragödie nur Untergeordnetes geleiſtet? Dort war die Stelle, Character, Geiſt und Leidenſchaft tauſendgeſtaltig im Wachſen, Kämpfen und Unterliegen der Menſchen zur An- ſchauung zu bringen. Mit andern Worten: warum hat Italien keinen Shakspeare hervorgebracht? — denn dem übrigen nordiſchen Theater des XVI., XVII. Jahrhunderts möchten die Italiener wohl gewachſen ſein, und mit dem ſpaniſchen konnten ſie nicht concurriren weil ſie keinen reli- giöſen Fanatismus empfanden, den abſtracten Ehrenpunct nur pro forma mitmachten, und ihr tyranniſches, illegitimes Fürſtenthum als ſolches anzubeten und zu verklären zu klug und zu ſtolz waren 1). Es handelt ſich alſo einzig nur um die kurze Blüthezeit des engliſchen Theaters. Mangel der Tragödie. Hierauf ließe ſich erwiedern, daß das ganze übrige Europa auch nur Einen Shakspeare hervorgebracht hat und daß ein ſolcher Genius überhaupt ein ſeltenes Geſchenk des Himmels iſt. Ferner könnte möglicherweiſe eine hohe Blüthe des italieniſchen Theaters im Anzuge geweſen ſein, als die 3) 1) Dem einzelnen Hofe oder Fürſten allerdings wurde von den Gele- genheitsdramatikern hinlänglich geſchmeichelt. 3) und dazu halbaſiatiſchen Beleg enthält. (Abgedruckt u. a. als Bei- lage zu den cento novelle antiche.)

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/323>, abgerufen am 24.04.2024.