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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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4. Abschnitt.ganzen, vollen Gehalt des Menschen entdeckt und zu Tage
fördert.

Zunächst entwickelt dieß Weltalter, wie wir sahen, auf
das Stärkste den Individualismus; dann leitet es den-
selben zur eifrigsten, vielseitigsten Erkenntniß des Indivi-
duellen auf allen Stufen an. Die Entwicklung der Per-
sönlichkeit ist wesentlich an das Erkennen derselben bei sich
und Andern gebunden. Zwischen beide große Erscheinungen
hinein haben wir die Einwirkung der antiken Literatur
deßhalb versetzen müssen, weil die Art des Erkennens und
Schilderns des Individuellen wie des allgemein Menschlichen
wesentlich durch dieses Medium gefärbt und bestimmt wird.
Die Kraft des Erkennens aber lag in der Zeit und in der
Nation.

Die beweisenden Phänomene, auf welche wir uns be-
rufen, werden wenige sein. Wenn irgendwo im Verlauf
dieser Darstellung, so hat der Verfasser hier das Gefühl,
daß er das bedenkliche Gebiet der Ahnung betreten hat und
daß, was ihm als zarter, doch deutlicher Farbenübergang
in der geistigen Geschichte des XIV. und XV. Jahrhunderts
vor Augen schwebt, von Andern doch schwerlich mag als
Thatsache anerkannt werden. Dieses allmälige Durchsichtig-
werden einer Volksseele ist eine Erscheinung, welche jedem
Beschauer anders vorkommen mag. Die Zeit wird sichten
und richten.

Temperamente
und Planeten.
Glücklicherweise begann die Erkenntniß des geistigen
Wesens des Menschen nicht mit dem Grübeln nach einer
theoretischen Psychologie, -- denn dafür genügte Aristoteles --
sondern mit der Gabe der Beobachtung und der Schilderung.
Der unerläßliche theoretische Ballast beschränkt sich auf die
Lehre von den vier Temperamenten in ihrer damals üblichen
Verbindung mit dem Dogma vom Einfluß der Planeten.
Diese starren Elemente behaupten sich als unauflöslich
seit unvordenklichen Zeiten in der Beurtheilung der Einzel-
menschen, ohne weiter dem großen allgemeinen Fortschritt

4. Abſchnitt.ganzen, vollen Gehalt des Menſchen entdeckt und zu Tage
fördert.

Zunächſt entwickelt dieß Weltalter, wie wir ſahen, auf
das Stärkſte den Individualismus; dann leitet es den-
ſelben zur eifrigſten, vielſeitigſten Erkenntniß des Indivi-
duellen auf allen Stufen an. Die Entwicklung der Per-
ſönlichkeit iſt weſentlich an das Erkennen derſelben bei ſich
und Andern gebunden. Zwiſchen beide große Erſcheinungen
hinein haben wir die Einwirkung der antiken Literatur
deßhalb verſetzen müſſen, weil die Art des Erkennens und
Schilderns des Individuellen wie des allgemein Menſchlichen
weſentlich durch dieſes Medium gefärbt und beſtimmt wird.
Die Kraft des Erkennens aber lag in der Zeit und in der
Nation.

Die beweiſenden Phänomene, auf welche wir uns be-
rufen, werden wenige ſein. Wenn irgendwo im Verlauf
dieſer Darſtellung, ſo hat der Verfaſſer hier das Gefühl,
daß er das bedenkliche Gebiet der Ahnung betreten hat und
daß, was ihm als zarter, doch deutlicher Farbenübergang
in der geiſtigen Geſchichte des XIV. und XV. Jahrhunderts
vor Augen ſchwebt, von Andern doch ſchwerlich mag als
Thatſache anerkannt werden. Dieſes allmälige Durchſichtig-
werden einer Volksſeele iſt eine Erſcheinung, welche jedem
Beſchauer anders vorkommen mag. Die Zeit wird ſichten
und richten.

Temperamente
und Planeten.
Glücklicherweiſe begann die Erkenntniß des geiſtigen
Weſens des Menſchen nicht mit dem Grübeln nach einer
theoretiſchen Pſychologie, — denn dafür genügte Ariſtoteles —
ſondern mit der Gabe der Beobachtung und der Schilderung.
Der unerläßliche theoretiſche Ballaſt beſchränkt ſich auf die
Lehre von den vier Temperamenten in ihrer damals üblichen
Verbindung mit dem Dogma vom Einfluß der Planeten.
Dieſe ſtarren Elemente behaupten ſich als unauflöslich
ſeit unvordenklichen Zeiten in der Beurtheilung der Einzel-
menſchen, ohne weiter dem großen allgemeinen Fortſchritt

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[304/0314] ganzen, vollen Gehalt des Menſchen entdeckt und zu Tage fördert. 4. Abſchnitt. Zunächſt entwickelt dieß Weltalter, wie wir ſahen, auf das Stärkſte den Individualismus; dann leitet es den- ſelben zur eifrigſten, vielſeitigſten Erkenntniß des Indivi- duellen auf allen Stufen an. Die Entwicklung der Per- ſönlichkeit iſt weſentlich an das Erkennen derſelben bei ſich und Andern gebunden. Zwiſchen beide große Erſcheinungen hinein haben wir die Einwirkung der antiken Literatur deßhalb verſetzen müſſen, weil die Art des Erkennens und Schilderns des Individuellen wie des allgemein Menſchlichen weſentlich durch dieſes Medium gefärbt und beſtimmt wird. Die Kraft des Erkennens aber lag in der Zeit und in der Nation. Die beweiſenden Phänomene, auf welche wir uns be- rufen, werden wenige ſein. Wenn irgendwo im Verlauf dieſer Darſtellung, ſo hat der Verfaſſer hier das Gefühl, daß er das bedenkliche Gebiet der Ahnung betreten hat und daß, was ihm als zarter, doch deutlicher Farbenübergang in der geiſtigen Geſchichte des XIV. und XV. Jahrhunderts vor Augen ſchwebt, von Andern doch ſchwerlich mag als Thatſache anerkannt werden. Dieſes allmälige Durchſichtig- werden einer Volksſeele iſt eine Erſcheinung, welche jedem Beſchauer anders vorkommen mag. Die Zeit wird ſichten und richten. Glücklicherweiſe begann die Erkenntniß des geiſtigen Weſens des Menſchen nicht mit dem Grübeln nach einer theoretiſchen Pſychologie, — denn dafür genügte Ariſtoteles — ſondern mit der Gabe der Beobachtung und der Schilderung. Der unerläßliche theoretiſche Ballaſt beſchränkt ſich auf die Lehre von den vier Temperamenten in ihrer damals üblichen Verbindung mit dem Dogma vom Einfluß der Planeten. Dieſe ſtarren Elemente behaupten ſich als unauflöslich ſeit unvordenklichen Zeiten in der Beurtheilung der Einzel- menſchen, ohne weiter dem großen allgemeinen Fortſchritt Temperamente und Planeten.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/314>, abgerufen am 29.03.2024.