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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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sondern er besteigt hohe Berge in der einzig möglichen Ab-4. Abschnitt.
sicht, den Fernblick zu genießen 1); vielleicht seit dem Alter-
thum einer der ersten, der dieß gethan hat. Boccaccio läßt
mehr errathen, als daß er es schilderte, wie ihn die Land-
schaft ergreift, doch wird man in seinen Hirtenromanen 2)
die wenigstens in seiner Phantasie vorhandene mächtige
Naturscenerie nicht verkennen. Vollständig und mit größter
Entschiedenheit bezeugt dann Petrarca, einer der frühsten
völlig modernen Menschen, die Bedeutung der Landschaft
für die erregbare Seele. Der lichte Geist, welcher zuerst
aus allen Literaturen die Anfänge und Fortschritte des
malerischen Natursinnes zusammengesucht und in den "An-
sichten der Natur" selber das höchste Meisterwerk der Schil-
derung vollbracht hat, Alexander von Humboldt, ist gegen
Petrarca nicht völlig gerecht gewesen, so daß uns nach dem
großen Schnitter noch eine kleine Aehrenlese übrig bleibt.

Petrarca war nämlich nicht bloß ein bedeutender Geo-Petrarca.
graph und Chartograph -- die frühste Karte von Italien 3)
soll er haben entwerfen lassen -- er wiederholte auch nicht
bloß was die Alten gesagt hatten 4), sondern der Anblick
der Natur traf ihn unmittelbar. Der Naturgenuß ist für
ihn der erwünschteste Begleiter jeder geistigen Beschäftigung;

1) Man wird schwer errathen, was er sonst auf dem Gipfel der Bis-
mantova, im Gebiet von Reggio, könnte zu thun gehabt haben.
Purgat. IV, 26. Schon die Präcision, womit er alle Theile seines
Jenseits zu verdeutlichen sucht, beweist vielen Raum- und Formensinn.
2) Außer der Schilderung von Bajae in der Fiammetta, von dem Hain
im Ameto etc. ist eine Stelle de Genealogia Deor. XIV, 11 von
Bedeutung, wo er eine Anzahl landschaftlicher Einzelheiten, Bäume,
Wiesen, Bäche, Heerden, Hütten etc., aufzählt und beifügt, diese
Dinge animum mulcent; ihre Wirkung sei, mentem in se col-
ligere.
3) Libri, hist. des sciences math. II, p. 249.
4) Obwohl er sich gern auf sie beruft, z. B.: de vita solitaria, bes.
p. 241, wo er die Beschreibung einer Weinlaube aus S. Augustin
citirt.

ſondern er beſteigt hohe Berge in der einzig möglichen Ab-4. Abſchnitt.
ſicht, den Fernblick zu genießen 1); vielleicht ſeit dem Alter-
thum einer der erſten, der dieß gethan hat. Boccaccio läßt
mehr errathen, als daß er es ſchilderte, wie ihn die Land-
ſchaft ergreift, doch wird man in ſeinen Hirtenromanen 2)
die wenigſtens in ſeiner Phantaſie vorhandene mächtige
Naturſcenerie nicht verkennen. Vollſtändig und mit größter
Entſchiedenheit bezeugt dann Petrarca, einer der frühſten
völlig modernen Menſchen, die Bedeutung der Landſchaft
für die erregbare Seele. Der lichte Geiſt, welcher zuerſt
aus allen Literaturen die Anfänge und Fortſchritte des
maleriſchen Naturſinnes zuſammengeſucht und in den „An-
ſichten der Natur“ ſelber das höchſte Meiſterwerk der Schil-
derung vollbracht hat, Alexander von Humboldt, iſt gegen
Petrarca nicht völlig gerecht geweſen, ſo daß uns nach dem
großen Schnitter noch eine kleine Aehrenleſe übrig bleibt.

Petrarca war nämlich nicht bloß ein bedeutender Geo-Petrarca.
graph und Chartograph — die frühſte Karte von Italien 3)
ſoll er haben entwerfen laſſen — er wiederholte auch nicht
bloß was die Alten geſagt hatten 4), ſondern der Anblick
der Natur traf ihn unmittelbar. Der Naturgenuß iſt für
ihn der erwünſchteſte Begleiter jeder geiſtigen Beſchäftigung;

1) Man wird ſchwer errathen, was er ſonſt auf dem Gipfel der Bis-
mantova, im Gebiet von Reggio, könnte zu thun gehabt haben.
Purgat. IV, 26. Schon die Präciſion, womit er alle Theile ſeines
Jenſeits zu verdeutlichen ſucht, beweist vielen Raum- und Formenſinn.
2) Außer der Schilderung von Bajae in der Fiammetta, von dem Hain
im Ameto ꝛc. iſt eine Stelle de Genealogia Deor. XIV, 11 von
Bedeutung, wo er eine Anzahl landſchaftlicher Einzelheiten, Bäume,
Wieſen, Bäche, Heerden, Hütten ꝛc., aufzählt und beifügt, dieſe
Dinge animum mulcent; ihre Wirkung ſei, mentem in se col-
ligere.
3) Libri, hist. des sciences math. II, p. 249.
4) Obwohl er ſich gern auf ſie beruft, z. B.: de vita solitaria, beſ.
p. 241, wo er die Beſchreibung einer Weinlaube aus S. Auguſtin
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[295/0305] ſondern er beſteigt hohe Berge in der einzig möglichen Ab- ſicht, den Fernblick zu genießen 1); vielleicht ſeit dem Alter- thum einer der erſten, der dieß gethan hat. Boccaccio läßt mehr errathen, als daß er es ſchilderte, wie ihn die Land- ſchaft ergreift, doch wird man in ſeinen Hirtenromanen 2) die wenigſtens in ſeiner Phantaſie vorhandene mächtige Naturſcenerie nicht verkennen. Vollſtändig und mit größter Entſchiedenheit bezeugt dann Petrarca, einer der frühſten völlig modernen Menſchen, die Bedeutung der Landſchaft für die erregbare Seele. Der lichte Geiſt, welcher zuerſt aus allen Literaturen die Anfänge und Fortſchritte des maleriſchen Naturſinnes zuſammengeſucht und in den „An- ſichten der Natur“ ſelber das höchſte Meiſterwerk der Schil- derung vollbracht hat, Alexander von Humboldt, iſt gegen Petrarca nicht völlig gerecht geweſen, ſo daß uns nach dem großen Schnitter noch eine kleine Aehrenleſe übrig bleibt. 4. Abſchnitt. Petrarca war nämlich nicht bloß ein bedeutender Geo- graph und Chartograph — die frühſte Karte von Italien 3) ſoll er haben entwerfen laſſen — er wiederholte auch nicht bloß was die Alten geſagt hatten 4), ſondern der Anblick der Natur traf ihn unmittelbar. Der Naturgenuß iſt für ihn der erwünſchteſte Begleiter jeder geiſtigen Beſchäftigung; Petrarca. 1) Man wird ſchwer errathen, was er ſonſt auf dem Gipfel der Bis- mantova, im Gebiet von Reggio, könnte zu thun gehabt haben. Purgat. IV, 26. Schon die Präciſion, womit er alle Theile ſeines Jenſeits zu verdeutlichen ſucht, beweist vielen Raum- und Formenſinn. 2) Außer der Schilderung von Bajae in der Fiammetta, von dem Hain im Ameto ꝛc. iſt eine Stelle de Genealogia Deor. XIV, 11 von Bedeutung, wo er eine Anzahl landſchaftlicher Einzelheiten, Bäume, Wieſen, Bäche, Heerden, Hütten ꝛc., aufzählt und beifügt, dieſe Dinge animum mulcent; ihre Wirkung ſei, mentem in se col- ligere. 3) Libri, hist. des sciences math. II, p. 249. 4) Obwohl er ſich gern auf ſie beruft, z. B.: de vita solitaria, beſ. p. 241, wo er die Beſchreibung einer Weinlaube aus S. Auguſtin citirt.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/305>, abgerufen am 28.03.2024.