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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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schaft als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenom-4. Abschnitt.
men und genossen haben 1).

Diese Fähigkeit ist immer das Resultat langer, com-
plicirter Culturprocesse, und ihr Entstehen läßt sich schwer
verfolgen, indem ein verhülltes Gefühl dieser Art lange
vorhanden sein kann, ehe es sich in Dichtung und Malerei
verrathen, und damit seiner selbst bewußt werden wird.
Bei den Alten z. B. waren Kunst und Poesie mit dem
ganzen Menschenleben gewissermaßen fertig, ehe sie an die
landschaftliche Darstellung gingen und diese blieb immer
nur eine beschränkte Gattung, während doch von Homer
an der starke Eindruck der Natur auf den Menschen aus
zahllosen einzelnen Worten und Versen hervorleuchtet.
Sodann waren die germanischen Stämme, welche auf dem
Boden des römischen Reiches ihre Herrschaften gründeten,
von Hause aus im höchsten Sinne ausgerüstet zur Erkennt-
niß des Geistes in der landschaftlichen Natur, und wenn
sie auch das Christenthum eine Zeitlang nöthigte, in den
bisher verehrten Quellen und Bergen, in See und Wald
das Antlitz falscher Dämonen zu ahnen, so war doch dieses
Durchgangsstadium ohne Zweifel bald überwunden. Auf
der Höhe des Mittelalters um das Jahr 1200, existirtDie Landschaft
im Mittelalter.

wieder ein völlig naiver Genuß der äußern Welt und giebt
sich lebendig zu erkennen bei den Minnedichtern der ver-
schiedenen Nationen 2). Dieselben verrathen das stärkste
Mitleben in den einfachsten Erscheinungen, als da sind der
Frühling und seine Blumen, die grüne Heide und der
Wald. Aber es ist lauter Vordergrund ohne Ferne, selbst
noch in dem besondern Sinne, daß die weitgereisten Kreuz-
fahrer sich in ihren Liedern kaum als solche verrathen.

1) Es ist kaum nöthig, auf die berühmte Darstellung dieses Gegenstan-
des im zweiten Bande von Humboldt's Kosmos zu verweisen.
2) Hieher gehören bei Humboldt a. a. O. die Mittheilungen von
Wilhelm Grimm.

ſchaft als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenom-4. Abſchnitt.
men und genoſſen haben 1).

Dieſe Fähigkeit iſt immer das Reſultat langer, com-
plicirter Culturproceſſe, und ihr Entſtehen läßt ſich ſchwer
verfolgen, indem ein verhülltes Gefühl dieſer Art lange
vorhanden ſein kann, ehe es ſich in Dichtung und Malerei
verrathen, und damit ſeiner ſelbſt bewußt werden wird.
Bei den Alten z. B. waren Kunſt und Poeſie mit dem
ganzen Menſchenleben gewiſſermaßen fertig, ehe ſie an die
landſchaftliche Darſtellung gingen und dieſe blieb immer
nur eine beſchränkte Gattung, während doch von Homer
an der ſtarke Eindruck der Natur auf den Menſchen aus
zahlloſen einzelnen Worten und Verſen hervorleuchtet.
Sodann waren die germaniſchen Stämme, welche auf dem
Boden des römiſchen Reiches ihre Herrſchaften gründeten,
von Hauſe aus im höchſten Sinne ausgerüſtet zur Erkennt-
niß des Geiſtes in der landſchaftlichen Natur, und wenn
ſie auch das Chriſtenthum eine Zeitlang nöthigte, in den
bisher verehrten Quellen und Bergen, in See und Wald
das Antlitz falſcher Dämonen zu ahnen, ſo war doch dieſes
Durchgangsſtadium ohne Zweifel bald überwunden. Auf
der Höhe des Mittelalters um das Jahr 1200, exiſtirtDie Landſchaft
im Mittelalter.

wieder ein völlig naiver Genuß der äußern Welt und giebt
ſich lebendig zu erkennen bei den Minnedichtern der ver-
ſchiedenen Nationen 2). Dieſelben verrathen das ſtärkſte
Mitleben in den einfachſten Erſcheinungen, als da ſind der
Frühling und ſeine Blumen, die grüne Heide und der
Wald. Aber es iſt lauter Vordergrund ohne Ferne, ſelbſt
noch in dem beſondern Sinne, daß die weitgereisten Kreuz-
fahrer ſich in ihren Liedern kaum als ſolche verrathen.

1) Es iſt kaum nöthig, auf die berühmte Darſtellung dieſes Gegenſtan-
des im zweiten Bande von Humboldt's Kosmos zu verweiſen.
2) Hieher gehören bei Humboldt a. a. O. die Mittheilungen von
Wilhelm Grimm.
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[293/0303] ſchaft als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenom- men und genoſſen haben 1). 4. Abſchnitt. Dieſe Fähigkeit iſt immer das Reſultat langer, com- plicirter Culturproceſſe, und ihr Entſtehen läßt ſich ſchwer verfolgen, indem ein verhülltes Gefühl dieſer Art lange vorhanden ſein kann, ehe es ſich in Dichtung und Malerei verrathen, und damit ſeiner ſelbſt bewußt werden wird. Bei den Alten z. B. waren Kunſt und Poeſie mit dem ganzen Menſchenleben gewiſſermaßen fertig, ehe ſie an die landſchaftliche Darſtellung gingen und dieſe blieb immer nur eine beſchränkte Gattung, während doch von Homer an der ſtarke Eindruck der Natur auf den Menſchen aus zahlloſen einzelnen Worten und Verſen hervorleuchtet. Sodann waren die germaniſchen Stämme, welche auf dem Boden des römiſchen Reiches ihre Herrſchaften gründeten, von Hauſe aus im höchſten Sinne ausgerüſtet zur Erkennt- niß des Geiſtes in der landſchaftlichen Natur, und wenn ſie auch das Chriſtenthum eine Zeitlang nöthigte, in den bisher verehrten Quellen und Bergen, in See und Wald das Antlitz falſcher Dämonen zu ahnen, ſo war doch dieſes Durchgangsſtadium ohne Zweifel bald überwunden. Auf der Höhe des Mittelalters um das Jahr 1200, exiſtirt wieder ein völlig naiver Genuß der äußern Welt und giebt ſich lebendig zu erkennen bei den Minnedichtern der ver- ſchiedenen Nationen 2). Dieſelben verrathen das ſtärkſte Mitleben in den einfachſten Erſcheinungen, als da ſind der Frühling und ſeine Blumen, die grüne Heide und der Wald. Aber es iſt lauter Vordergrund ohne Ferne, ſelbſt noch in dem beſondern Sinne, daß die weitgereisten Kreuz- fahrer ſich in ihren Liedern kaum als ſolche verrathen. Die Landſchaft im Mittelalter. 1) Es iſt kaum nöthig, auf die berühmte Darſtellung dieſes Gegenſtan- des im zweiten Bande von Humboldt's Kosmos zu verweiſen. 2) Hieher gehören bei Humboldt a. a. O. die Mittheilungen von Wilhelm Grimm.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/303>, abgerufen am 19.04.2024.