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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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3. Abschnitt.Avignon übergesiedelt; die meisten thatsächlich vorhandenen
Mächte waren gewaltsam und illegitim; der zum Bewußt-
sein geweckte Geist aber war im Suchen nach einem neuen
haltbaren Ideal begriffen, und so konnte sich das Schein-
Die römische
Weltherrschaft.
bild und Postulat einer römisch-italischen Weltherrschaft
der Gemüther bemächtigen, ja eine practische Verwirklichung
versuchen mit Cola di Rienzo. Wie er, namentlich bei
seinem ersten Tribunat, die Aufgabe anfaßte, mußte es
allerdings nur zu einer wunderlichen Comödie kommen,
allein für das Nationalgefühl war die Erinnerung an das
alte Rom durchaus kein werthloser Anhalt. Mit seiner
Cultur aufs Neue ausgerüstet fühlte man sich bald in der
That als die vorgeschrittenste Nation der Welt.

Diese Bewegung der Geister, nicht in ihrer Fülle,
sondern nur in ihren äußern Umrissen, und wesentlich in
ihren Anfängen zu zeichnen ist nun unsere nächste Aufgabe 1).


1) Für das Nähere möchte ich gerne auf eine gute und ausführliche
Geschichte der Philologie verweisen, kenne aber die Literatur dieses
Faches nicht hinlänglich. Vieles findet sich bei Roscoe: Lorenzo
magnif. und: Leo X, sowie in Voigt: Enea Silvio, und in Papen-
cordt: Gesch. der Stadt Rom im Mittelalter. -- Wer sich einen
Begriff machen will von dem Umfang, welchen das Wissenswürdige
bei den Gebildeten des beginnenden XVI. Jahrh. angenommen
hatte, ist am besten auf die Commentarii urbani des Raphael
Volaterranus zu verweisen. Hier sieht man, wie das Alterthum
den Eingang und Hauptinhalt jedes Erkenntnißzweiges ausmachte,
von der Geographie und Localgeschichte durch die Biographien aller
Mächtigen und Berühmten, die Populärphilosophie, die Moral und
die einzelnen Specialwissenschaften hindurch bis auf die Analyse
des ganzen Aristoteles, womit das Werk schließt. Um die ganze
Bedeutung desselben als Quelle der Bildung zu erkennen, müßte
man es mit allen frühern Encyclopädien vergleichen.

3. Abſchnitt.Avignon übergeſiedelt; die meiſten thatſächlich vorhandenen
Mächte waren gewaltſam und illegitim; der zum Bewußt-
ſein geweckte Geiſt aber war im Suchen nach einem neuen
haltbaren Ideal begriffen, und ſo konnte ſich das Schein-
Die römiſche
Weltherrſchaft.
bild und Poſtulat einer römiſch-italiſchen Weltherrſchaft
der Gemüther bemächtigen, ja eine practiſche Verwirklichung
verſuchen mit Cola di Rienzo. Wie er, namentlich bei
ſeinem erſten Tribunat, die Aufgabe anfaßte, mußte es
allerdings nur zu einer wunderlichen Comödie kommen,
allein für das Nationalgefühl war die Erinnerung an das
alte Rom durchaus kein werthloſer Anhalt. Mit ſeiner
Cultur aufs Neue ausgerüſtet fühlte man ſich bald in der
That als die vorgeſchrittenſte Nation der Welt.

Dieſe Bewegung der Geiſter, nicht in ihrer Fülle,
ſondern nur in ihren äußern Umriſſen, und weſentlich in
ihren Anfängen zu zeichnen iſt nun unſere nächſte Aufgabe 1).


1) Für das Nähere möchte ich gerne auf eine gute und ausführliche
Geſchichte der Philologie verweiſen, kenne aber die Literatur dieſes
Faches nicht hinlänglich. Vieles findet ſich bei Roscoe: Lorenzo
magnif. und: Leo X, ſowie in Voigt: Enea Silvio, und in Papen-
cordt: Geſch. der Stadt Rom im Mittelalter. — Wer ſich einen
Begriff machen will von dem Umfang, welchen das Wiſſenswürdige
bei den Gebildeten des beginnenden XVI. Jahrh. angenommen
hatte, iſt am beſten auf die Commentarii urbani des Raphael
Volaterranus zu verweiſen. Hier ſieht man, wie das Alterthum
den Eingang und Hauptinhalt jedes Erkenntnißzweiges ausmachte,
von der Geographie und Localgeſchichte durch die Biographien aller
Mächtigen und Berühmten, die Populärphiloſophie, die Moral und
die einzelnen Specialwiſſenſchaften hindurch bis auf die Analyſe
des ganzen Ariſtoteles, womit das Werk ſchließt. Um die ganze
Bedeutung deſſelben als Quelle der Bildung zu erkennen, müßte
man es mit allen frühern Encyclopädien vergleichen.
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[176/0186] Avignon übergeſiedelt; die meiſten thatſächlich vorhandenen Mächte waren gewaltſam und illegitim; der zum Bewußt- ſein geweckte Geiſt aber war im Suchen nach einem neuen haltbaren Ideal begriffen, und ſo konnte ſich das Schein- bild und Poſtulat einer römiſch-italiſchen Weltherrſchaft der Gemüther bemächtigen, ja eine practiſche Verwirklichung verſuchen mit Cola di Rienzo. Wie er, namentlich bei ſeinem erſten Tribunat, die Aufgabe anfaßte, mußte es allerdings nur zu einer wunderlichen Comödie kommen, allein für das Nationalgefühl war die Erinnerung an das alte Rom durchaus kein werthloſer Anhalt. Mit ſeiner Cultur aufs Neue ausgerüſtet fühlte man ſich bald in der That als die vorgeſchrittenſte Nation der Welt. 3. Abſchnitt. Die römiſche Weltherrſchaft. Dieſe Bewegung der Geiſter, nicht in ihrer Fülle, ſondern nur in ihren äußern Umriſſen, und weſentlich in ihren Anfängen zu zeichnen iſt nun unſere nächſte Aufgabe 1). 1) Für das Nähere möchte ich gerne auf eine gute und ausführliche Geſchichte der Philologie verweiſen, kenne aber die Literatur dieſes Faches nicht hinlänglich. Vieles findet ſich bei Roscoe: Lorenzo magnif. und: Leo X, ſowie in Voigt: Enea Silvio, und in Papen- cordt: Geſch. der Stadt Rom im Mittelalter. — Wer ſich einen Begriff machen will von dem Umfang, welchen das Wiſſenswürdige bei den Gebildeten des beginnenden XVI. Jahrh. angenommen hatte, iſt am beſten auf die Commentarii urbani des Raphael Volaterranus zu verweiſen. Hier ſieht man, wie das Alterthum den Eingang und Hauptinhalt jedes Erkenntnißzweiges ausmachte, von der Geographie und Localgeſchichte durch die Biographien aller Mächtigen und Berühmten, die Populärphiloſophie, die Moral und die einzelnen Specialwiſſenſchaften hindurch bis auf die Analyſe des ganzen Ariſtoteles, womit das Werk ſchließt. Um die ganze Bedeutung deſſelben als Quelle der Bildung zu erkennen, müßte man es mit allen frühern Encyclopädien vergleichen.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/186>, abgerufen am 19.04.2024.