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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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3. Abschnitt.welcher für eine ganze Gattung der damaligen lateinischen
Poesie den Ton angab, ein Italiener gewesen sei. Es ist
derjenige, welchem die besten Stücke der sogenannten Car-
mina Burana angehören. Eine ungehemmte Freude an der
Welt und ihren Genüssen, als deren Schutzgenien die
alten Heidengötter wieder erscheinen, strömt in prachtvollem
Fluß durch die gereimten Strophen. Wer sie in einem
Zuge liest, wird die Ahnung, daß hier ein Italiener,
wahrscheinlich ein Lombarde spreche, kaum abweisen können;
es giebt aber auch bestimmte einzelne Gründe dafür 1). Bis
zu einem gewissen Grade sind diese lateinischen Poesien der
Clerici vagantes des XII. Jahrhunderts allerdings ein
gemeinsames europäisches Product, mit sammt ihrer großen
auffallenden Frivolität, allein Der, welcher den Gesang de
Phyllide et Flora
und das Aestuans interius etc. ge-
dichtet hat, war vermuthlich kein Nordländer, und auch der
feine beobachtende Sybarit nicht, von welchem Dum Dianae
Die
Renaissance in
derselben.
vitrea sero lampas oritur (S. 124) herrührt. Hier ist
eine Renaissance der antiken Weltanschauung, die nur um
so klarer in die Augen fällt neben der mittelalterlichen
Reimform. Es giebt manche Arbeit dieses und der nächsten
Jahrhunderte, welche Hexameter und Pentameter in sorg-
fältiger Nachbildung und allerlei antike, zumal mythologische
Zuthat in den Sachen aufweist und doch nicht von ferne
jenen antiken Eindruck hervorbringt. In den hexametrischen

1) Carmina Burana, in der "Bibliothek des literarischen Vereins in
Stuttgart" der XVI. Band. -- Der Aufenthalt in Pavia (p. 68. 69),
die italienische Localität überhaupt, die Scene mit der pastorella
unter dem Oelbaum (p. 145), die Anschauung einer pinus als
eines weitschattigen Wiesenbaums (p. 156), der mehrmalige Gebrauch
des Wortes bravium (p. 137. 144), namentlich aber die Form
Madii für Maji (p. 141) scheinen für unsere Annahme zu sprechen.
-- Daß der Dichter sich Walther nennt, giebt noch keinen Wink
über seine Herkunft: Gewöhnlich identificirt man ihn mit Gual-
terus de Mapes, einem Domherrn von Salisbury und Caplan der
englischen Könige gegen Ende des XII. Jahrh.

3. Abſchnitt.welcher für eine ganze Gattung der damaligen lateiniſchen
Poeſie den Ton angab, ein Italiener geweſen ſei. Es iſt
derjenige, welchem die beſten Stücke der ſogenannten Car-
mina Burana angehören. Eine ungehemmte Freude an der
Welt und ihren Genüſſen, als deren Schutzgenien die
alten Heidengötter wieder erſcheinen, ſtrömt in prachtvollem
Fluß durch die gereimten Strophen. Wer ſie in einem
Zuge liest, wird die Ahnung, daß hier ein Italiener,
wahrſcheinlich ein Lombarde ſpreche, kaum abweiſen können;
es giebt aber auch beſtimmte einzelne Gründe dafür 1). Bis
zu einem gewiſſen Grade ſind dieſe lateiniſchen Poeſien der
Clerici vagantes des XII. Jahrhunderts allerdings ein
gemeinſames europäiſches Product, mit ſammt ihrer großen
auffallenden Frivolität, allein Der, welcher den Geſang de
Phyllide et Flora
und das Aestuans interius etc. ge-
dichtet hat, war vermuthlich kein Nordländer, und auch der
feine beobachtende Sybarit nicht, von welchem Dum Dianæ
Die
Renaiſſance in
derſelben.
vitrea sero lampas oritur (S. 124) herrührt. Hier iſt
eine Renaiſſance der antiken Weltanſchauung, die nur um
ſo klarer in die Augen fällt neben der mittelalterlichen
Reimform. Es giebt manche Arbeit dieſes und der nächſten
Jahrhunderte, welche Hexameter und Pentameter in ſorg-
fältiger Nachbildung und allerlei antike, zumal mythologiſche
Zuthat in den Sachen aufweist und doch nicht von ferne
jenen antiken Eindruck hervorbringt. In den hexametriſchen

1) Carmina Burana, in der „Bibliothek des literariſchen Vereins in
Stuttgart“ der XVI. Band. — Der Aufenthalt in Pavia (p. 68. 69),
die italieniſche Localität überhaupt, die Scene mit der pastorella
unter dem Oelbaum (p. 145), die Anſchauung einer pinus als
eines weitſchattigen Wieſenbaums (p. 156), der mehrmalige Gebrauch
des Wortes bravium (p. 137. 144), namentlich aber die Form
Madii für Maji (p. 141) ſcheinen für unſere Annahme zu ſprechen.
— Daß der Dichter ſich Walther nennt, giebt noch keinen Wink
über ſeine Herkunft: Gewöhnlich identificirt man ihn mit Gual-
terus de Mapes, einem Domherrn von Salisbury und Caplan der
engliſchen Könige gegen Ende des XII. Jahrh.
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[174/0184] welcher für eine ganze Gattung der damaligen lateiniſchen Poeſie den Ton angab, ein Italiener geweſen ſei. Es iſt derjenige, welchem die beſten Stücke der ſogenannten Car- mina Burana angehören. Eine ungehemmte Freude an der Welt und ihren Genüſſen, als deren Schutzgenien die alten Heidengötter wieder erſcheinen, ſtrömt in prachtvollem Fluß durch die gereimten Strophen. Wer ſie in einem Zuge liest, wird die Ahnung, daß hier ein Italiener, wahrſcheinlich ein Lombarde ſpreche, kaum abweiſen können; es giebt aber auch beſtimmte einzelne Gründe dafür 1). Bis zu einem gewiſſen Grade ſind dieſe lateiniſchen Poeſien der Clerici vagantes des XII. Jahrhunderts allerdings ein gemeinſames europäiſches Product, mit ſammt ihrer großen auffallenden Frivolität, allein Der, welcher den Geſang de Phyllide et Flora und das Aestuans interius etc. ge- dichtet hat, war vermuthlich kein Nordländer, und auch der feine beobachtende Sybarit nicht, von welchem Dum Dianæ vitrea sero lampas oritur (S. 124) herrührt. Hier iſt eine Renaiſſance der antiken Weltanſchauung, die nur um ſo klarer in die Augen fällt neben der mittelalterlichen Reimform. Es giebt manche Arbeit dieſes und der nächſten Jahrhunderte, welche Hexameter und Pentameter in ſorg- fältiger Nachbildung und allerlei antike, zumal mythologiſche Zuthat in den Sachen aufweist und doch nicht von ferne jenen antiken Eindruck hervorbringt. In den hexametriſchen 3. Abſchnitt. Die Renaiſſance in derſelben. 1) Carmina Burana, in der „Bibliothek des literariſchen Vereins in Stuttgart“ der XVI. Band. — Der Aufenthalt in Pavia (p. 68. 69), die italieniſche Localität überhaupt, die Scene mit der pastorella unter dem Oelbaum (p. 145), die Anſchauung einer pinus als eines weitſchattigen Wieſenbaums (p. 156), der mehrmalige Gebrauch des Wortes bravium (p. 137. 144), namentlich aber die Form Madii für Maji (p. 141) ſcheinen für unſere Annahme zu ſprechen. — Daß der Dichter ſich Walther nennt, giebt noch keinen Wink über ſeine Herkunft: Gewöhnlich identificirt man ihn mit Gual- terus de Mapes, einem Domherrn von Salisbury und Caplan der engliſchen Könige gegen Ende des XII. Jahrh.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/184>, abgerufen am 29.03.2024.