Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite
Architektur. Tempel von Pästum.

Den ältesten griechischen Tempeln wie z. B.: demjenigen von Ocha
auf Euböa, genügte ein Bau von vier Steinmauern. Als aber eine
griechische Kunst erwachte, schuf sie die ringsum gehende Säulenhalle
mit dem Gebälk, zuerst vielleicht von Holz, bald von Stein. Diese
Halle ist, abgesehen von ihren besondern Zwecken, nichts als ein idea-
ler, lebendig gewordener Ausdruck der Mauer selbst. In wunderbarer
Ausgleichung wirken strebende Kräfte und getragene Lasten zu einem
organischen Ganzen zusammen.

Was das Auge hier und an andern griechischen Bauten erblickt,
sind eben keine blossen Steine, sondern lebende Wesen. Wir müssen
ihrem innern Leben und ihrer Entwicklung aufmerksam nachgehen.
Die dorische Ordnung, welche wir hier in ihrer vollen alterthüm-
lichen Strenge an einem Gebäude des VI. Jahrhunderts v. Chr. vor
uns haben, lässt diese Entwicklung reiner und vollständiger erkennen
als ihre jüngere Schwester, die ionische.

Der Ausdruck der dorischen Säule musste hier, dem gewaltigen
Gebälke gemäss, derjenige der grössten Tragekraft sein. Man konnte
möglichst dicke Pfeiler oder Cylinder hinstellen, allein der Grieche
pflegte nicht durch Massen, sondern durch ideale Behandlung der For-
men zu wirken. Seine dorische Ordnung aber ist eine der höchsten
Hervorbringungen des menschlichen Formgefühls.

Das erste Mittel, welches hier in Betracht kam, war die Verjün-
gung der Säule nach oben. Sie giebt dem Auge die Sicherheit, dass
die Säule nicht umstürzen könne. Das zweite waren die Cannelirun-
gen. Sie deuten an, dass die Säule sich innerlich verdichte und ver-
härte, gleichsam ihre Kraft zusammennehme; zugleich verstärken sie
den Ausdruck des Strebens nach oben. Die Linien aber sind wie im
ganzen Bau nirgends, so auch in der Säule nicht mathematisch hart;
vielmehr giebt eine leise Anschwellung das innere schaffende Leben
derselben auf das Schönste zu erkennen.

So bewegt und beseelt nähert sich die Säule dem Gebälk. Der
mächtige Druck desselben drängt ihr oberes Ende auseinander zu einem
Wulst (Echinus), welches hier das Capitäl bildet. Sein Profil ist in
jedem dorischen Tempel der wichtigste Kraftmesser, der Grundton des
Ganzen. Nach unten zu ist er umgeben von drei Rinnen, gleich als
verschöbe sich hier eine zarte, lockere Oberhaut der Säule. Ihnen ent-

Architektur. Tempel von Pästum.

Den ältesten griechischen Tempeln wie z. B.: demjenigen von Ocha
auf Euböa, genügte ein Bau von vier Steinmauern. Als aber eine
griechische Kunst erwachte, schuf sie die ringsum gehende Säulenhalle
mit dem Gebälk, zuerst vielleicht von Holz, bald von Stein. Diese
Halle ist, abgesehen von ihren besondern Zwecken, nichts als ein idea-
ler, lebendig gewordener Ausdruck der Mauer selbst. In wunderbarer
Ausgleichung wirken strebende Kräfte und getragene Lasten zu einem
organischen Ganzen zusammen.

Was das Auge hier und an andern griechischen Bauten erblickt,
sind eben keine blossen Steine, sondern lebende Wesen. Wir müssen
ihrem innern Leben und ihrer Entwicklung aufmerksam nachgehen.
Die dorische Ordnung, welche wir hier in ihrer vollen alterthüm-
lichen Strenge an einem Gebäude des VI. Jahrhunderts v. Chr. vor
uns haben, lässt diese Entwicklung reiner und vollständiger erkennen
als ihre jüngere Schwester, die ionische.

Der Ausdruck der dorischen Säule musste hier, dem gewaltigen
Gebälke gemäss, derjenige der grössten Tragekraft sein. Man konnte
möglichst dicke Pfeiler oder Cylinder hinstellen, allein der Grieche
pflegte nicht durch Massen, sondern durch ideale Behandlung der For-
men zu wirken. Seine dorische Ordnung aber ist eine der höchsten
Hervorbringungen des menschlichen Formgefühls.

Das erste Mittel, welches hier in Betracht kam, war die Verjün-
gung der Säule nach oben. Sie giebt dem Auge die Sicherheit, dass
die Säule nicht umstürzen könne. Das zweite waren die Cannelirun-
gen. Sie deuten an, dass die Säule sich innerlich verdichte und ver-
härte, gleichsam ihre Kraft zusammennehme; zugleich verstärken sie
den Ausdruck des Strebens nach oben. Die Linien aber sind wie im
ganzen Bau nirgends, so auch in der Säule nicht mathematisch hart;
vielmehr giebt eine leise Anschwellung das innere schaffende Leben
derselben auf das Schönste zu erkennen.

So bewegt und beseelt nähert sich die Säule dem Gebälk. Der
mächtige Druck desselben drängt ihr oberes Ende auseinander zu einem
Wulst (Echinus), welches hier das Capitäl bildet. Sein Profil ist in
jedem dorischen Tempel der wichtigste Kraftmesser, der Grundton des
Ganzen. Nach unten zu ist er umgeben von drei Rinnen, gleich als
verschöbe sich hier eine zarte, lockere Oberhaut der Säule. Ihnen ent-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0024" n="2"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Architektur. Tempel von Pästum.</hi> </fw><lb/>
        <p>Den ältesten griechischen Tempeln wie z. B.: demjenigen von Ocha<lb/>
auf Euböa, genügte ein Bau von vier Steinmauern. Als aber eine<lb/>
griechische Kunst erwachte, schuf sie die ringsum gehende Säulenhalle<lb/>
mit dem Gebälk, zuerst vielleicht von Holz, bald von Stein. Diese<lb/>
Halle ist, abgesehen von ihren besondern Zwecken, nichts als ein idea-<lb/>
ler, lebendig gewordener Ausdruck der Mauer selbst. In wunderbarer<lb/>
Ausgleichung wirken strebende Kräfte und getragene Lasten zu einem<lb/>
organischen Ganzen zusammen.</p><lb/>
        <p>Was das Auge hier und an andern griechischen Bauten erblickt,<lb/>
sind eben keine blossen Steine, sondern lebende Wesen. Wir müssen<lb/>
ihrem innern Leben und ihrer Entwicklung aufmerksam nachgehen.<lb/>
Die <hi rendition="#g">dorische Ordnung</hi>, welche wir hier in ihrer vollen alterthüm-<lb/>
lichen Strenge an einem Gebäude des VI. Jahrhunderts v. Chr. vor<lb/>
uns haben, lässt diese Entwicklung reiner und vollständiger erkennen<lb/>
als ihre jüngere Schwester, die ionische.</p><lb/>
        <p>Der Ausdruck der dorischen Säule musste hier, dem gewaltigen<lb/>
Gebälke gemäss, derjenige der grössten Tragekraft sein. Man konnte<lb/>
möglichst dicke Pfeiler oder Cylinder hinstellen, allein der Grieche<lb/>
pflegte nicht durch Massen, sondern durch ideale Behandlung der For-<lb/>
men zu wirken. Seine dorische Ordnung aber ist eine der höchsten<lb/>
Hervorbringungen des menschlichen Formgefühls.</p><lb/>
        <p>Das erste Mittel, welches hier in Betracht kam, war die Verjün-<lb/>
gung der Säule nach oben. Sie giebt dem Auge die Sicherheit, dass<lb/>
die Säule nicht umstürzen könne. Das zweite waren die Cannelirun-<lb/>
gen. Sie deuten an, dass die Säule sich innerlich verdichte und ver-<lb/>
härte, gleichsam ihre Kraft zusammennehme; zugleich verstärken sie<lb/>
den Ausdruck des Strebens nach oben. Die Linien aber sind wie im<lb/>
ganzen Bau nirgends, so auch in der Säule nicht mathematisch hart;<lb/>
vielmehr giebt eine leise Anschwellung das innere schaffende Leben<lb/>
derselben auf das Schönste zu erkennen.</p><lb/>
        <p>So bewegt und beseelt nähert sich die Säule dem Gebälk. Der<lb/>
mächtige Druck desselben drängt ihr oberes Ende auseinander zu einem<lb/>
Wulst (Echinus), welches hier das Capitäl bildet. Sein Profil ist in<lb/>
jedem dorischen Tempel der wichtigste Kraftmesser, der Grundton des<lb/>
Ganzen. Nach unten zu ist er umgeben von drei Rinnen, gleich als<lb/>
verschöbe sich hier eine zarte, lockere Oberhaut der Säule. Ihnen ent-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0024] Architektur. Tempel von Pästum. Den ältesten griechischen Tempeln wie z. B.: demjenigen von Ocha auf Euböa, genügte ein Bau von vier Steinmauern. Als aber eine griechische Kunst erwachte, schuf sie die ringsum gehende Säulenhalle mit dem Gebälk, zuerst vielleicht von Holz, bald von Stein. Diese Halle ist, abgesehen von ihren besondern Zwecken, nichts als ein idea- ler, lebendig gewordener Ausdruck der Mauer selbst. In wunderbarer Ausgleichung wirken strebende Kräfte und getragene Lasten zu einem organischen Ganzen zusammen. Was das Auge hier und an andern griechischen Bauten erblickt, sind eben keine blossen Steine, sondern lebende Wesen. Wir müssen ihrem innern Leben und ihrer Entwicklung aufmerksam nachgehen. Die dorische Ordnung, welche wir hier in ihrer vollen alterthüm- lichen Strenge an einem Gebäude des VI. Jahrhunderts v. Chr. vor uns haben, lässt diese Entwicklung reiner und vollständiger erkennen als ihre jüngere Schwester, die ionische. Der Ausdruck der dorischen Säule musste hier, dem gewaltigen Gebälke gemäss, derjenige der grössten Tragekraft sein. Man konnte möglichst dicke Pfeiler oder Cylinder hinstellen, allein der Grieche pflegte nicht durch Massen, sondern durch ideale Behandlung der For- men zu wirken. Seine dorische Ordnung aber ist eine der höchsten Hervorbringungen des menschlichen Formgefühls. Das erste Mittel, welches hier in Betracht kam, war die Verjün- gung der Säule nach oben. Sie giebt dem Auge die Sicherheit, dass die Säule nicht umstürzen könne. Das zweite waren die Cannelirun- gen. Sie deuten an, dass die Säule sich innerlich verdichte und ver- härte, gleichsam ihre Kraft zusammennehme; zugleich verstärken sie den Ausdruck des Strebens nach oben. Die Linien aber sind wie im ganzen Bau nirgends, so auch in der Säule nicht mathematisch hart; vielmehr giebt eine leise Anschwellung das innere schaffende Leben derselben auf das Schönste zu erkennen. So bewegt und beseelt nähert sich die Säule dem Gebälk. Der mächtige Druck desselben drängt ihr oberes Ende auseinander zu einem Wulst (Echinus), welches hier das Capitäl bildet. Sein Profil ist in jedem dorischen Tempel der wichtigste Kraftmesser, der Grundton des Ganzen. Nach unten zu ist er umgeben von drei Rinnen, gleich als verschöbe sich hier eine zarte, lockere Oberhaut der Säule. Ihnen ent-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/24
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/24>, abgerufen am 29.03.2024.