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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 60. Die königliche Gewalt.
Wege geleitet. Die Stärkung hielt aber nur solange vor, als die neuen
Kräfte, die das Königtum in seinen Dienst stellte, noch konkurrierten
mit denjenigen, über die einst die Merowinger geboten hatten, näm-
lich mit den Leistungen des Unterthanenverbands und eines nicht
feudalisierten Beamtentums. Es liegt in der Natur des Lehnsbandes,
dass es auf die Dauer desto mehr zerschlissen und verbraucht wird,
je mehr das Lehnwesen sich ausbreitet. Wo jedes Grundeigentum
sich in Lehn verwandelt, wird das Lehn, wie die Entwicklung des
englischen Rechtes zeigt, schliesslich zum Begriff des Grundeigentums.
Je mehr die Zahl der Vassallen wächst, desto mehr hört ihre Treue
auf, eine besondere Treue, ihr Dienst, ein Sonderdienst zu sein. In
der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts ist der politische Nach-
lass der merowingischen Zeit in Westfrancien fast völlig aufgezehrt,
die Lehnstreue verflacht, die Unterordnung der Kirche unter das
Königtum in Frage gestellt, dagegen das durch Kirche und Vassallen
beschränkte Lehnskönigtum in rascher Ausbildung begriffen, während
es im ostfränkischen Reiche, wo das Lehnwesen in bedeutend lang-
samerem Tempo um sich griff, erst in der nachfränkischen Zeit zur
Entfaltung gelangt.

Trotz des Aufschwungs und des Niedergangs der königlichen Ge-
walt, wie sie zuerst in merowingischer, dann in karolingischer Zeit
stattfanden, blieb der theoretische Inhalt der königlichen Rechte im
wesentlichen derselbe, nur dass sich im Laufe der Entwicklung eine
Differenzierung und insofern eine Vermehrung der königlichen Rechte
bemerkbar macht.

Der König hat gegen alle Unterthanen die Banngewalt, das Recht,
bei Strafe zu gebieten und zu verbieten. Auf der Banngewalt fussen
zum guten Teile die königliche Verordnungsgewalt und die Ausbildung
des dem Volksrecht zur Seite tretenden Königsrechtes 9.

Der König ist oberstes Organ der Friedensbewahrung und hat als
solches die höchste Polizeigewalt. Der allgemeine Friede erscheint
als Königsfriede. Alle, die diesen Frieden geniessen, stehen im Schutze
des Königs. Neben dem gemeinen Frieden giebt es einen Sonder-
frieden, neben dem gemeinen Königsschutz einen besonderen mit recht-
lich höheren Wirkungen.

Wie das Reich das Reich des Königs ist, sind die Unterthanen
Leute des Königs, seine leudes 10, homines; sie schulden ihm Treue,

9 Siehe oben I 277 ff.
10 Das Wort leudes bedeutet in weiterer Anwendung alle Unterthanen des
Königs. Über leod, leuda siehe oben I 121 Anm. 13, über leudes in der Lex
Burg. oben I 250 Anm. 17. In engerem Sinne sind leudes Unterthanen, die in

§ 60. Die königliche Gewalt.
Wege geleitet. Die Stärkung hielt aber nur solange vor, als die neuen
Kräfte, die das Königtum in seinen Dienst stellte, noch konkurrierten
mit denjenigen, über die einst die Merowinger geboten hatten, näm-
lich mit den Leistungen des Unterthanenverbands und eines nicht
feudalisierten Beamtentums. Es liegt in der Natur des Lehnsbandes,
daſs es auf die Dauer desto mehr zerschlissen und verbraucht wird,
je mehr das Lehnwesen sich ausbreitet. Wo jedes Grundeigentum
sich in Lehn verwandelt, wird das Lehn, wie die Entwicklung des
englischen Rechtes zeigt, schlieſslich zum Begriff des Grundeigentums.
Je mehr die Zahl der Vassallen wächst, desto mehr hört ihre Treue
auf, eine besondere Treue, ihr Dienst, ein Sonderdienst zu sein. In
der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts ist der politische Nach-
laſs der merowingischen Zeit in Westfrancien fast völlig aufgezehrt,
die Lehnstreue verflacht, die Unterordnung der Kirche unter das
Königtum in Frage gestellt, dagegen das durch Kirche und Vassallen
beschränkte Lehnskönigtum in rascher Ausbildung begriffen, während
es im ostfränkischen Reiche, wo das Lehnwesen in bedeutend lang-
samerem Tempo um sich griff, erst in der nachfränkischen Zeit zur
Entfaltung gelangt.

Trotz des Aufschwungs und des Niedergangs der königlichen Ge-
walt, wie sie zuerst in merowingischer, dann in karolingischer Zeit
stattfanden, blieb der theoretische Inhalt der königlichen Rechte im
wesentlichen derselbe, nur daſs sich im Laufe der Entwicklung eine
Differenzierung und insofern eine Vermehrung der königlichen Rechte
bemerkbar macht.

Der König hat gegen alle Unterthanen die Banngewalt, das Recht,
bei Strafe zu gebieten und zu verbieten. Auf der Banngewalt fuſsen
zum guten Teile die königliche Verordnungsgewalt und die Ausbildung
des dem Volksrecht zur Seite tretenden Königsrechtes 9.

Der König ist oberstes Organ der Friedensbewahrung und hat als
solches die höchste Polizeigewalt. Der allgemeine Friede erscheint
als Königsfriede. Alle, die diesen Frieden genieſsen, stehen im Schutze
des Königs. Neben dem gemeinen Frieden giebt es einen Sonder-
frieden, neben dem gemeinen Königsschutz einen besonderen mit recht-
lich höheren Wirkungen.

Wie das Reich das Reich des Königs ist, sind die Unterthanen
Leute des Königs, seine leudes 10, homines; sie schulden ihm Treue,

9 Siehe oben I 277 ff.
10 Das Wort leudes bedeutet in weiterer Anwendung alle Unterthanen des
Königs. Über leód, leuda siehe oben I 121 Anm. 13, über leudes in der Lex
Burg. oben I 250 Anm. 17. In engerem Sinne sind leudes Unterthanen, die in
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[11/0029] § 60. Die königliche Gewalt. Wege geleitet. Die Stärkung hielt aber nur solange vor, als die neuen Kräfte, die das Königtum in seinen Dienst stellte, noch konkurrierten mit denjenigen, über die einst die Merowinger geboten hatten, näm- lich mit den Leistungen des Unterthanenverbands und eines nicht feudalisierten Beamtentums. Es liegt in der Natur des Lehnsbandes, daſs es auf die Dauer desto mehr zerschlissen und verbraucht wird, je mehr das Lehnwesen sich ausbreitet. Wo jedes Grundeigentum sich in Lehn verwandelt, wird das Lehn, wie die Entwicklung des englischen Rechtes zeigt, schlieſslich zum Begriff des Grundeigentums. Je mehr die Zahl der Vassallen wächst, desto mehr hört ihre Treue auf, eine besondere Treue, ihr Dienst, ein Sonderdienst zu sein. In der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts ist der politische Nach- laſs der merowingischen Zeit in Westfrancien fast völlig aufgezehrt, die Lehnstreue verflacht, die Unterordnung der Kirche unter das Königtum in Frage gestellt, dagegen das durch Kirche und Vassallen beschränkte Lehnskönigtum in rascher Ausbildung begriffen, während es im ostfränkischen Reiche, wo das Lehnwesen in bedeutend lang- samerem Tempo um sich griff, erst in der nachfränkischen Zeit zur Entfaltung gelangt. Trotz des Aufschwungs und des Niedergangs der königlichen Ge- walt, wie sie zuerst in merowingischer, dann in karolingischer Zeit stattfanden, blieb der theoretische Inhalt der königlichen Rechte im wesentlichen derselbe, nur daſs sich im Laufe der Entwicklung eine Differenzierung und insofern eine Vermehrung der königlichen Rechte bemerkbar macht. Der König hat gegen alle Unterthanen die Banngewalt, das Recht, bei Strafe zu gebieten und zu verbieten. Auf der Banngewalt fuſsen zum guten Teile die königliche Verordnungsgewalt und die Ausbildung des dem Volksrecht zur Seite tretenden Königsrechtes 9. Der König ist oberstes Organ der Friedensbewahrung und hat als solches die höchste Polizeigewalt. Der allgemeine Friede erscheint als Königsfriede. Alle, die diesen Frieden genieſsen, stehen im Schutze des Königs. Neben dem gemeinen Frieden giebt es einen Sonder- frieden, neben dem gemeinen Königsschutz einen besonderen mit recht- lich höheren Wirkungen. Wie das Reich das Reich des Königs ist, sind die Unterthanen Leute des Königs, seine leudes 10, homines; sie schulden ihm Treue, 9 Siehe oben I 277 ff. 10 Das Wort leudes bedeutet in weiterer Anwendung alle Unterthanen des Königs. Über leód, leuda siehe oben I 121 Anm. 13, über leudes in der Lex Burg. oben I 250 Anm. 17. In engerem Sinne sind leudes Unterthanen, die in

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/29>, abgerufen am 16.04.2024.