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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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Daedalos.

Schon die Alten haben es eingesehen, dass der Name der
Person von der Thätigkeit derselben abgeleitet war: Daedalos
ist der kunstreiche Arbeiter, der Künstler 1). Die Sage geht
noch einen Schritt weiter und macht ihn zum Sohn oder Enkel
des Eupalamos oder Palamaon 2), des tüchtigen Handarbeiters:
denn die Kunst ist eine Tochter des Handwerkes. Weniger
auf die Kunst, als auf den Ruhm und die Klugheit des Künst-
lers bezieht es sich, wenn als Eltern des Daedalos Euphemos
und Phrasimede genannt werden 3). Einer andern Genealogie
liegt offenbar die Absicht zu Grunde, seinen Ruhm mit dem
der herrlichsten Geschlechter zu verbinden, denen Athen die
Grundlagen seiner Verfassung und damit seiner Cultur verdankt.
Deshalb heisst er Sohn oder Enkel des Metion, der, wie Eupa-
lamos, Sohn des Erechtheus genannt wird 4); so ferner Sohn
der Merope, einer Tochter desselben Königs, und darum wie-
der Vetter des Theseus 5); endlich Sohn der Alkippe, die wir
aus attischen Mythen als Tochter der Agraulos kennen 6). --
Allen diesen Abstammungen zufolge ist also sein Vaterland
Athen; und Athen ist auch sonst in der Sage der Ausgangs-
punkt seines Ruhmes 7). Wird er aber daneben ausnahms-
weise als Kreter 8) bezeichnet, so erklärt sich dies hinlänglich
aus seinem Aufenthalte auf dieser Insel. Aber sein Ruf war
weit verbreitet; und um seine Thätigkeit an so vielen weit
von einander entfernten Orten zu erklären, kam man zu der
Annahme, dass er ein unstätes Wanderleben geführt habe.
Was wir darüber erfahren, hat in den verschiedenen Sagen,
wenigstens in den Hauptpunkten, eine feste übereinstimmende
Gestalt angenommen. Die Ausführung in allen Einzelnheiten
ist natürlich für die Kunstgeschichte ohne Bedeutung und kann
daher hier übergangen werden.

Daedalos muss Athen wegen eines Verbrechens verlassen:
er ermordet seinen Neffen Talos, Kalos oder Perdix, weil
dieser durch die Erfindung des Zirkels und der Säge den

1) Paus. IX, 3, 2.
2) Paus. l. l. Apoll. III, 15. 9. Schol. Plat. rep. VIII,
p. 529. Suidas, s. v. Perdikos ieron. Hyg. fab. 244. 274.
3) Schol. Plat.
l. l. Hyg. fab. 39. Serv. ad. Virg. Aen. VI, 14.
4) Plat. Jo p. 533. Apoll.
l. l. Paus. VII, 4, 5. Diod. IV, 76. Schol. Soph. Oed. Col. 463, wo als Mutter
Iphinoe genannt wird.
5) Plut. Thes. 19.
6) Apoll. l. l.
7) Vgl. Philost. sen.
imagg. I, 16.
8) Eust. ad Il. S 592. Gortynius aliger: Auson. Mosella 301.
Daedalos.

Schon die Alten haben es eingesehen, dass der Name der
Person von der Thätigkeit derselben abgeleitet war: Daedalos
ist der kunstreiche Arbeiter, der Künstler 1). Die Sage geht
noch einen Schritt weiter und macht ihn zum Sohn oder Enkel
des Eupalamos oder Palamaon 2), des tüchtigen Handarbeiters:
denn die Kunst ist eine Tochter des Handwerkes. Weniger
auf die Kunst, als auf den Ruhm und die Klugheit des Künst-
lers bezieht es sich, wenn als Eltern des Daedalos Euphemos
und Phrasimede genannt werden 3). Einer andern Genealogie
liegt offenbar die Absicht zu Grunde, seinen Ruhm mit dem
der herrlichsten Geschlechter zu verbinden, denen Athen die
Grundlagen seiner Verfassung und damit seiner Cultur verdankt.
Deshalb heisst er Sohn oder Enkel des Metion, der, wie Eupa-
lamos, Sohn des Erechtheus genannt wird 4); so ferner Sohn
der Merope, einer Tochter desselben Königs, und darum wie-
der Vetter des Theseus 5); endlich Sohn der Alkippe, die wir
aus attischen Mythen als Tochter der Agraulos kennen 6). —
Allen diesen Abstammungen zufolge ist also sein Vaterland
Athen; und Athen ist auch sonst in der Sage der Ausgangs-
punkt seines Ruhmes 7). Wird er aber daneben ausnahms-
weise als Kreter 8) bezeichnet, so erklärt sich dies hinlänglich
aus seinem Aufenthalte auf dieser Insel. Aber sein Ruf war
weit verbreitet; und um seine Thätigkeit an so vielen weit
von einander entfernten Orten zu erklären, kam man zu der
Annahme, dass er ein unstätes Wanderleben geführt habe.
Was wir darüber erfahren, hat in den verschiedenen Sagen,
wenigstens in den Hauptpunkten, eine feste übereinstimmende
Gestalt angenommen. Die Ausführung in allen Einzelnheiten
ist natürlich für die Kunstgeschichte ohne Bedeutung und kann
daher hier übergangen werden.

Daedalos muss Athen wegen eines Verbrechens verlassen:
er ermordet seinen Neffen Talos, Kalos oder Perdix, weil
dieser durch die Erfindung des Zirkels und der Säge den

1) Paus. IX, 3, 2.
2) Paus. l. l. Apoll. III, 15. 9. Schol. Plat. rep. VIII,
p. 529. Suidas, s. v. Πέρδικος ἱερόν. Hyg. fab. 244. 274.
3) Schol. Plat.
l. l. Hyg. fab. 39. Serv. ad. Virg. Aen. VI, 14.
4) Plat. Jo p. 533. Apoll.
l. l. Paus. VII, 4, 5. Diod. IV, 76. Schol. Soph. Oed. Col. 463, wo als Mutter
Iphinoë genannt wird.
5) Plut. Thes. 19.
6) Apoll. l. l.
7) Vgl. Philost. sen.
imagg. I, 16.
8) Eust. ad Il. Σ 592. Gortynius aliger: Auson. Mosella 301.
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[14/0027] Daedalos. Schon die Alten haben es eingesehen, dass der Name der Person von der Thätigkeit derselben abgeleitet war: Daedalos ist der kunstreiche Arbeiter, der Künstler 1). Die Sage geht noch einen Schritt weiter und macht ihn zum Sohn oder Enkel des Eupalamos oder Palamaon 2), des tüchtigen Handarbeiters: denn die Kunst ist eine Tochter des Handwerkes. Weniger auf die Kunst, als auf den Ruhm und die Klugheit des Künst- lers bezieht es sich, wenn als Eltern des Daedalos Euphemos und Phrasimede genannt werden 3). Einer andern Genealogie liegt offenbar die Absicht zu Grunde, seinen Ruhm mit dem der herrlichsten Geschlechter zu verbinden, denen Athen die Grundlagen seiner Verfassung und damit seiner Cultur verdankt. Deshalb heisst er Sohn oder Enkel des Metion, der, wie Eupa- lamos, Sohn des Erechtheus genannt wird 4); so ferner Sohn der Merope, einer Tochter desselben Königs, und darum wie- der Vetter des Theseus 5); endlich Sohn der Alkippe, die wir aus attischen Mythen als Tochter der Agraulos kennen 6). — Allen diesen Abstammungen zufolge ist also sein Vaterland Athen; und Athen ist auch sonst in der Sage der Ausgangs- punkt seines Ruhmes 7). Wird er aber daneben ausnahms- weise als Kreter 8) bezeichnet, so erklärt sich dies hinlänglich aus seinem Aufenthalte auf dieser Insel. Aber sein Ruf war weit verbreitet; und um seine Thätigkeit an so vielen weit von einander entfernten Orten zu erklären, kam man zu der Annahme, dass er ein unstätes Wanderleben geführt habe. Was wir darüber erfahren, hat in den verschiedenen Sagen, wenigstens in den Hauptpunkten, eine feste übereinstimmende Gestalt angenommen. Die Ausführung in allen Einzelnheiten ist natürlich für die Kunstgeschichte ohne Bedeutung und kann daher hier übergangen werden. Daedalos muss Athen wegen eines Verbrechens verlassen: er ermordet seinen Neffen Talos, Kalos oder Perdix, weil dieser durch die Erfindung des Zirkels und der Säge den 1) Paus. IX, 3, 2. 2) Paus. l. l. Apoll. III, 15. 9. Schol. Plat. rep. VIII, p. 529. Suidas, s. v. Πέρδικος ἱερόν. Hyg. fab. 244. 274. 3) Schol. Plat. l. l. Hyg. fab. 39. Serv. ad. Virg. Aen. VI, 14. 4) Plat. Jo p. 533. Apoll. l. l. Paus. VII, 4, 5. Diod. IV, 76. Schol. Soph. Oed. Col. 463, wo als Mutter Iphinoë genannt wird. 5) Plut. Thes. 19. 6) Apoll. l. l. 7) Vgl. Philost. sen. imagg. I, 16. 8) Eust. ad Il. Σ 592. Gortynius aliger: Auson. Mosella 301.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/27>, abgerufen am 28.03.2024.