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Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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auf die Anatomie schicken müsse.

Das ist ein wunderlich Gesetz, sagte ich, denn man könnte wohl bei jedem Selbstmord einen Prozeß anstellen, ob er aus Melancholie oder Verzweiflung entstanden, der so lange dauern müßte, daß der Richter und die Advocaten darüber in Melancholie und Verzweiflung fielen und auf die Anatomie kämen. Aber seid nur getröstet, liebe Mutter, unser Herzog ist ein so guter Herr: wenn er die ganze Sache hört, wird er dem armen Kasper gewiß sein Plätzchen neben der Mutter vergönnen.

Das gebe Gott! erwiderte die Alte: sehe Er nun, lieber Mensch, als der Gerichtshalter Alles zu Papier gebracht hatte, gab er mir die Brieftasche und den Kranz für die schöne Annerl, und so bin ich dann gestern hieher gelaufen, damit ich ihr an ihrem Ehrentage den Trost noch mit auf den Weg geben kann. -- Der Kasper ist zu rechter Zeit gestorben, hätte er Alles gewußt, er wäre närrisch geworden vor Betrübniß.

Was ist denn nun mit der schönen Annerl? fragte ich die Alte. Bald sagt Ihr, sie habe nur noch wenige Stunden, bald sprecht Ihr von ihrem Ehrentag, und sie werde Trost gewinnen durch Eure traurige Nachricht. Sagt mir doch Alles heraus, will sie Hochzeit halten mit einem Andern, ist sie todt, krank? Ich muß Alles wissen, damit ich es in die Bittschrift setzen kann.

Da erwiderte die Alte: Ach, lieber Schreiber, es ist nun so! Gottes Wille geschehe! Sehe Er, als Kasper kam, war ich doch nicht recht froh, als Kasper sich das Leben nahm, war ich doch nicht recht traurig; ich hätte es nicht überleben können, wenn Gott sich meiner nicht erbarmt gehabt hätte mit größerem Leid. Ja, ich sage

auf die Anatomie schicken müsse.

Das ist ein wunderlich Gesetz, sagte ich, denn man könnte wohl bei jedem Selbstmord einen Prozeß anstellen, ob er aus Melancholie oder Verzweiflung entstanden, der so lange dauern müßte, daß der Richter und die Advocaten darüber in Melancholie und Verzweiflung fielen und auf die Anatomie kämen. Aber seid nur getröstet, liebe Mutter, unser Herzog ist ein so guter Herr: wenn er die ganze Sache hört, wird er dem armen Kasper gewiß sein Plätzchen neben der Mutter vergönnen.

Das gebe Gott! erwiderte die Alte: sehe Er nun, lieber Mensch, als der Gerichtshalter Alles zu Papier gebracht hatte, gab er mir die Brieftasche und den Kranz für die schöne Annerl, und so bin ich dann gestern hieher gelaufen, damit ich ihr an ihrem Ehrentage den Trost noch mit auf den Weg geben kann. — Der Kasper ist zu rechter Zeit gestorben, hätte er Alles gewußt, er wäre närrisch geworden vor Betrübniß.

Was ist denn nun mit der schönen Annerl? fragte ich die Alte. Bald sagt Ihr, sie habe nur noch wenige Stunden, bald sprecht Ihr von ihrem Ehrentag, und sie werde Trost gewinnen durch Eure traurige Nachricht. Sagt mir doch Alles heraus, will sie Hochzeit halten mit einem Andern, ist sie todt, krank? Ich muß Alles wissen, damit ich es in die Bittschrift setzen kann.

Da erwiderte die Alte: Ach, lieber Schreiber, es ist nun so! Gottes Wille geschehe! Sehe Er, als Kasper kam, war ich doch nicht recht froh, als Kasper sich das Leben nahm, war ich doch nicht recht traurig; ich hätte es nicht überleben können, wenn Gott sich meiner nicht erbarmt gehabt hätte mit größerem Leid. Ja, ich sage

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T13:27:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/40>, abgerufen am 19.04.2024.